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Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Dietmar Dath: "Leider bin ich tot“

Rätselhafter, schwer lesbarer Roman
Suhrkamp Verlag, 2015, 464 Seiten


Zwischen Himmel und Erde, heißt es in Dietmar Daths jüngstem Roman, gehen viele „Sachen“ vor, „von denen der beschränkte menschliche Verstand blutwenig begreift“.


Es ereignen sich zum Beispiel Kriege, „die heute noch keiner sieht, obwohl sie schon stattfinden“. Ferner gibt es „natürliche Systeme“, die „etwas empfinden, vielleicht auch denken“. Sie sind „Götter“, möglicherweise aber auch „etwas noch Unbekannteres“.


Die handelnden Personen heißen Kain und Abel oder Cerulean (die Himmlische) und Nathalie (Die am Geburtstag des Herrn geborene (dies natalis=der Tag des Geburtstages des Herrn). Allein für das Verständnis der vielen verschiedenen Namen wäre ein Glossar hilfreich gewesen.


Die Grenzen zwischen gut und böse verschieben sich in einer Tektonik der Zeitplatten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins. „Etwas wollte geschehen, das sich nicht überblicken ließ“.
Mit wenigen Worten gelingen Dietmar Dath zwar gute Beschreibungen von Personen und Situationen, nur stellt er sie leider nicht in einen schlüssigen Zusammenhang. Auch die wissenschaftlichen Abhandlungen über das Wetter und über „Gott und die Welt“, helfen dem Leser nicht.


Bewertung:
Das Buch ist nicht flüssig lesbar. Vier Leser der shortlist haben sich durch die Seiten hindurch gequält, andere haben entnervt aufgegeben. Die Bandbreite in der Bewertung reichte von 0 bis zu 2,3 Punkten. Das Gesamtergebnis lag bei einem Schnitt von 1,3 von 5 möglichen Punkten (Optimum) und damit einem der schlechtesten Werte, die bisher vergeben wurden.


Worum geht es in dem Buch?
In Dietmar Daths Roman "Leider bin ich tot" lernen wir zunächst Nasrin, Abel und Wolf kennen, entfernte Jugendfreunde, deren Lebenswege sehr unterschiedliche Verlaufe genommen haben.

Wolfs Werdegang hat ihn ins Pfarramt geführt, doch endet seine Existenz als Berufsgeistlicher, nachdem er eine Rollstuhlfahrerin zu Tode geprügelt hat. Nasrin hat mit der Zeit zu einem strengen muslimischen Glauben gefunden; derzeit beteiligt sie sich an einer unkonventionellen Forschungsarbeit zur Logik des Windes. Allerdings gerät sie als mutmaßlich terrorbereite Islamistin ins Visier des BND. Ihr Bruder Abel hingegen führt einen areligiösen Lebenswandel, er ist Kosmopolit und erfolgreich als Avantgarde-Filmemacher. Seine Karriere hat er maßgeblich seiner ständigen Begleiterin Cyan Cerulean zu verdanken.


Cerulean, die weitreichende Kontakte zu Branchengrößen und Mäzenen besitzt, hat jedoch eine eigene Agenda. Dass diese Agenda eine viel größere Dimension besitzt, und sozusagen nicht von dieser Welt ist, erkennt der Leser zunächst, als sich zeigt, dass Cyan mit dem Wind zu kommunizieren vermag. Es wird vollends erkennbar, als sie Abel plötzlich in Gestalt seines eigenen Doppelgängers gegenübertritt und sich ihm als Kain vorstellt.


Das fatale Wirken Cyan Ceruleans führt allerdings nicht nur Nasrin, Abel und Wolf zueinander; es greift auch mächtig in Schicksale und Lebenswege aller beteiligten Figuren ein – vorwärts wie rückwärts. Das halbirdische Wesen besitzt nämlich die Fähigkeit, sich und andere nach Belieben innerhalb der Zeit wie von einem Ort zum nächsten zu bewegen.


Nach und nach erfolgt im Roman eine Aufdeckung des Beziehungsgeflechts und der Wirkungszusammenhänge, die zwischen den Figuren und Ereignissen bestehen. Und davon gibt es rund um die Protagonisten einige:
  • Eine junge Rock-Band, die sich allmählich vom Nazi-Sumpf, aus dem sie gekrochen kam, entfernt und später den Black Metal-Sektor revolutionieren wird.
  • Das sehr besondere Mädchen Nathalie, das in der Luft herumschwebende Glyphen erkennen und entziffern kann und die die Bandpolitik maßgeblich beeinflussen wird.
  • Eine ausufernde Party im Porno-Milieu.
  • Eine linkspolitische Bloggerin, die sich, leicht verliebt, für Nasrin interessiert.
  • Einen für die FAZ tätigen Journalisten namens Dietmar Dath.
  • Und eine Clique undurchsichtiger, mächtiger Männer aus dem Nahen und Fernen Osten, die ein wissenschaftliches Geheimprojekt befördern, das Belege für eine aberwitzig anmutende These liefert: Das Wetter denkt, es lernt, und es reagiert – auf uns.

Erzählung und Handlungsstränge vollführen Zeitsprünge, auch die Figuren selbst finden sich mitunter in Vergangenheiten wieder. Und so wie die Zeit durchlässig ist, zerfließt auch die erzählte Geschichte in mehrere Stränge. So entrückt Cerulean zum Beispiel irgendwann durch einen Spiegel hindurch in eine Vergangenheit, wo sie stirbt.


Die Geschichte verästelt sich in zwei gleich wahre Verläufe – einen, an dem sie beteiligt ist, und einen anderen, bei dem sie leider tot war. Und wenn das Buch schließlich mit derselben Szene endet, die eingangs aus anderer Perspektive beschrieben wird, so weiß der Leser nicht, ob dies ein erklärender Rückgriff darstellt oder ob es vielleicht doch der Beginn eines alternativen Geschichtsverlaufs sein könnte. ()

 

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