Melancholische Familiengeschichte um Werte und das Leben
Rowohlt, 2022, 832 Seiten
Handlung:
Russ Hildebrandt ist ein Hilfspastor auf geistlichen und fleischlichen Abwegen im mittleren Westen der USA. Auch seine Frau Marion und die drei ältesten der vier gemeinsamen Kinder versuchen sich selbst inmitten gesellschaftlicher und privater Umbrüche neu zu finden. Ob Diäten, Drogenhandel, sexuelle Hörigkeit, Militär- oder ziviler Dienst, Psychotherapie, weibliche Emanzipation, Road Trips, Rockmusik, Europareise, gelebtes Gutmenschentum im Indianerreservat oder der ghettoisierten Nachbarschaft, drogeninduzierte Psychose oder aber drogeninduzierte religiöse Erweckung – alles ist im Repertoire dieser um sich selbst kreisenden Figuren.
Zentral ist dabei die kirchliche Jugendgruppe „Crossroads“, wörtlich der „Scheideweg“ oder eben der „Weg des Kreuzes“, die sich von der klassisch bibelbezogenen Gebetsgruppe zur säkularisierten Psychogemeinschaft gewandelt hat.
Wandelten sich „echte“ Werte in der Säkularisation des 20. Jahrhunderts? Eine Familie - der „Kern der Gesellschaft“ – sucht sich selbst, aber nicht einander, und steht dabei zwischen Wahrhaftigkeit und moralischen Ansprüchen. Ansprüchen, die - das sagt Franzen deutlich - nicht christlich sein müssen oder sein können.
So klingt der Roman:
Franzen zeichnet seine Figuren in gewohnter psychologischer Virtuosität. Er greift dabei auf klassische Erzähltechniken, vergnügliche Multiperspektivität, meisterliche Dialoge, aber auch viel Introspektion seiner Figuren zurück. Das Gespür für die Würze der Kürze bleibt dabei ab und zu auf der Strecke.
Trotz der Länge des Romans, Schwierigkeiten mit dem Sujet und dem Erzählbeginn waren wir größtenteils gefesselt. Das zeittypische und christlich-fundamentalistisch typische antiquierte Frauenbild (der Figuren, nicht des Autors!) erschwerte manchem den Genuss. Andere waren betrübt, dass der Roman nach nur 832 Seiten „schon“ zu Ende war, so vertraut waren sie mit den Figuren und so spannend lasen sich deren Konflikte.
Bewertung:
Unsere durchschnittliche Bewertung von 3,7 Punkten entstand aus sehr guten sowie eher schlechten Bewertungen. An „Crossroads“ scheiden sich nicht nur die Wege, sondern auch die unsere Geister – ebenso wie die Feuilletonisten, trotz oder wegen seines Einstiegs als Nr. 1-Bestseller auf dem deutschen Markt. Wir sind gespannt auf den nächsten Band, denn „Crossroads“ bildet den Auftakt zu einer Trilogie, deren zweiter und dritter Teil in den 2000er Jahren sowie der Gegenwart spielen soll.
(AK)