Literatur am Abend: Montag, 15. April, 19.30 Uhr
Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Maria Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten“

Leicht historisch, stark atmosphärisch, zu experimentell
S. Fischer Verlag 2018, 598 Seiten


Die Geschichte:
In das Argentinien der 1970er Jahre kehrt unter Jubel eine lang exilierte Legende zurück: der linksgerichtete General und Politiker Juan Peron. Nach erster Amtszeit in den 1940ern vom Militär weggeputscht, wird er kurz vor seinem Tod 1974 erneut ins Präsidentenamt gewählt. Die Argentinier erhoffen sich einen Aufbruch in bessere Zeiten. Mit seinem Tod beginnt eine neue Militärdiktatur unter seiner Frau, (zuvor Vize-)Präsidentin Isabel Peron, die lediglich eine Marionette der alten Militäroligarchie gewesen sein soll. Diese Ereignisse bilden die Kulisse von „Nachtleuchten“, welches erklärtermaßen keine Geschichtsstunde sondern ein atmosphärisches Bild dieser bewegten Monate sein soll.


In gehobener Wohnlage von Buenos Aires – in Ballester – wuchs die Autorin auf. Dort spielen sich die drei Abschnitte des Romans ab.


Der erste Teil dreht sich um die präpubertäre Teresa, die aus ihrer gehobenen Mittelschichtsfamilie und ihrer katholischen Schule heraus in ihre Nachbarschaft geht, um Jesus zu den Menschen zu bringen, und zwar in Form einer fluoreszierenden Muttergottesstatuette. Tatsächlich erschüttert eine linksgerichtete Bewegung in den 1970ern das christlich-militärische Establishment Südamerikas, indem christliche mit sozialistischen Ideen verbunden werden. Teresas erwachsenes Pendant ist die neue Ordensschwester Maria, die sich mit dem politisch aktiven Jungpfarrer und auf dem Roller herumtreibt, anstatt im Kloster zu bleiben, wie es sich gehört. Leider hat Maria eine politisch noch unliebsamere Zwillingsschwester, mit der sie verwechselt und deswegen aus dem Weg geräumt wird. Ihr mysteriöses Verschwinden erzeugt allerlei abstruse Fantasien bei Teresa und ihren Freundinnen.


Im zweiten Teil werden die Mitarbeiter einer Autowerkstatt und der Inhaber eines Friseursalons porträtiert. Zwischen literarischen Ambitionen, Verstrickungen mit Sportwagenfahrenden „desperate Housewives“, Evita-Peron-Kult und spiritistischer Akademie mäandert die Handlung dahin.


Im dritten Teil schließlich geht es um eine Clique von Jungen, die unter der Führung eines wohlstandsverwahrlosten, hochbegabten vierzehnjährigen Gourmets einen vermeintlichen Katzenmassenmord und die Fluoreszenz der Muttergottesstatuette auf- bzw. erklärt.
Am Schluss deutet sich die Bekehrung Teresas vom Katholizismus zum naturwissenschaftlichen Positivismus an, während am Rande eine diffuse Paranoia aufgrund der wiedergekehrten Militärdiktatur immer deutlicher wird.


Stil und Sprache:
Die meisten von uns hielten den Stil für aufgesetzt, überbordend, exaltiert und geschraubt. Zieht man in Betracht, dass die Autorin keine Muttersprachlerin ist, den Roman aber dennoch auf Deutsch geschrieben hat, lässt sich einiges verzeihen. Die sich gerade zum Ende hin häufenden sprachlich und optisch experimentellen Teile sollen wahrscheinlich den Inhalt im Formalen spiegeln, tun dem Roman aber unserer Meinung nach keinen Gefallen.
Einzig das Schlusskapitel über den (vielleicht symbolisch angehauchten?) Fall und das Zerbersten der Muttergottesstatuette ist ein poetisches und ausnahmsweise gekonnt experimentelles Highlight, bis zu dem sich aber nur die wenigsten vorarbeiten konnten.


Plot & Dramaturgie:
Zu viele lose Enden im Plot, zu viele abziehbildartige Figuren bis hin zum auf die Spitze getriebenen Klischee des hysterisch anmutenden, homosexuellen Friseurs. Der Handlung zu folgen, strengte viele von uns so an, dass sie schon nach dem ersten Teil aufgaben. Wir ließen uns aus den Kritiken und vom Verlag belehren, es sei weniger um den Plot, sondern mehr um die vielbeschworene Atmosphäre gegangen. Diese wiederum erinnert stark ein einen verrückten, zusammengewürfelten, schwer verstehbaren Rausch aus Versatzstücken.


Bewertung:
Obgleich von den meisten Medien hoch gelobt und auf die Shortlist des deutschen Buchpreises 2018 katapultiert, fiel der Roman bei uns durch. Die durchschnittliche Note lag bei 2,5. Denn: Die Mehrheit fand den Roman unlesbar.
()

 

Weitere Kritiken:

Juli Zeh Simon Urban: Zwischen Welten
Johan Theorin: Nebelsturm
Milena Michiko Flasar: Herr Kato spielt Familie
András Forgách: Akte geschlossen
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Jens Steiner: Carambole
Lily Brett: Lola Bensky
Ned Beauman: Der gemeine Lumpfisch
Jakob Guanzon: Überfluss
Jennifer Egan: Candy Haus
Fatman Aydemir: Dschinns
Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig
Isabel Allende: Violeta
Hernan Diaz: Treue
Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden
Eckhard Nickel: Spitzweg
Daniel Schreiber: Allein
Marie NDiaye: Die Rache ist mein
Jonathan Franzen: Crossroads
Stephan Thome: Pflaumenregen
Alex Schulman: Die Überlebenden
Mithu Sanyal: Identitti
Christian Kracht: Eurotrash
Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne
Ayad Akhtar: Homeland Elegien
Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück
Deniz Ohde: Streulicht
Adam Haslett: Stellt euch vor, ich bin fort
Mario Vargas Llosa: Harte Jahre
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben
Ulrich Tukur: Ursprung der Welt
Dror Mishani: Drei
Eugen Ruge: Metropol
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt
Annette Hess: Deutsches Haus
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall
Monica Sabolo: Summer
Nell Zink: Virginia
Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
Stephan Thome: Gott der Barbaren
Fernando Aramburu: Patria
João Tordo: Die zufällige Biographie einer Liebe
Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin
Robert Menasse: Die Hauptstadt
Yaa Gyasi: Heimkehren
Edna O’Brien: Die kleinen roten Stühle
Lauren Groff: Licht und Zorn
Franzobel: Das Floß der Medusa
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer
Nathan Hill: Geister
Ian McEwan: Nussschale
Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Han Kang: Die Vegetarierin
Steven Galloway: Der Illusionist
Jane Gardam: Ein untadeliger Mann
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Joost Zwagerman: Duell
Dietmar Dath: Leider bin ich tot
Sascha Reh: Gegen die Zeit
Andreas Kollender: Kolbe
Yiyun Li: Schöner als die Einsamkeit
Monique Schwitter: Eins im andern
Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren
Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter
Nadifa Mohamed: Black Mamba Boy
Amos Oz: Judas
Ludwig Winder: Der Thronfolger
Patrick Modiano: Gräser der Nacht
Carl Nixon: Settlers Creek
David Peace: GB84
Hilary Mantel: Die Ermordung Margaret Thatchers
Jhumpa Lahiri: Das Tiefland
Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen
Margriet de Moor: Melodie d'amour
Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah
Michael Chabon: Telegraph Avenue
Daniel Galera: Flut
Elizabeth Strout: Das Leben natürlich
Terézia Mora: Das Ungeheuer
Uwe Timm: Vogelweide
Leon de Winter: Ein gutes Herz
Ned Beauman: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort
Juli Zeh: Nullzeit
Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Richard Ford: Kanada
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend
Stephan Thome: Grenzgang
Ursula Krechel: Landgericht
Stephan Thome: Fliehkräfte
Clemens J. Setz: Indigo
Vea Kaiser: Blasmusik Pop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
Germán Kratochwil: Scherbengericht
Véronique Olmi: In diesem Sommer
Toine Heijmans: Irrfahrt
Thomas von Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen
Annette Pehnt: Chronik der Nähe
Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg
Olga Grjasnowa: „Der Russe ist einer, der Birken liebt
Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm
Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten
Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks
Thomas Wolfe: Die Party bei den Jacks
Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet
Jonathan Lethem: Chronic City
Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer
Doron Rabinovici: Andernorts
Ian McEwan: Solar
Marie N´Diaye: Drei starke Frauen
Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee
Richard Price: Cash
Colum McCann: Die große Welt
Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht
Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr

Alle Buchkritiken