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Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Ulrich Tukur: "Ursprung der Welt“

Vergangenheitsbewältigung mit kriminellem Bogen in zwei Parallelwelten
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, 304 Seiten


Darum geht es:
Anlässlich einer Fotografie, die ihm sehr ähnlich sieht, begibt sich der Hauptprotagonist Paul Goullet im Jahr 2033 auf Recherchetour nach der Vergangenheit des Abgebildeten und seiner eigenen. Die Geschichte und letzten Lebensjahre seines „Doppelgängers“ Prosper Genoux, ein französischer Arzt, der sich in Zeiten des Zweiten Weltkriegs als Fluchthelfer gibt, erscheint Goullet in Teilen in seinen Träumen und in Zeiten von Bewusstlosigkeit. Immer wieder hat Goullet Déjà-vus und kommen ihm eigentlich nie betretene Wege und Straßen bekannt vor. Über die Pensionsinhaberin, bei der Goullet während seines Frankreichurlaubs unterkommt, erfährt er, wie sein Leben mit dem von Genoux verknüpft ist. Flankiert wird die Erzählung durch eine kurze Liebesgeschichte.


Ulrich Tukur hat einen fiktiven Roman mit historischen Bezügen und kriminalen Elementen aus der Perspektive des auktorialen Erzählers geschrieben. Seinem Nachwort kann entnommen werden, dass er historische Figuren als Vorbilder für den mordenden Arzt und den Gestapochef verwendet hat. Die Handlungen spielen in Frankreich und in Deutschland in den Jahren 2033 und 1943 (Rückblicke).


So klingt der Roman:
Der Debüt-Roman des bekannten Schauspielers und Musikers überfordert den Leser insbesondere am Anfang mit zu vielen Rückblicken, zumal nicht immer deutlich gemacht wird, in welcher Zeit der Roman gerade spielt. Dies löst sich erst auf, als klar wird, wer Genoux und Goullet sind und dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt und nicht etwa dieselbe mit anderem Namen.


Das ist unsere Meinung:
Die Sprache des Romans ist, vor allem zu Beginn des Romans, eher einfach und wird mit zahlreichen französischen Ausdrücken gespickt. Die Sätze sind dadurch schwer zu entschlüsseln.


Der Autor beschreibt viele belanglose Dinge und Selbstverständlichkeiten zu lang, sodass der Sprachstil insgesamt nicht überzeugt.


Der Spannungsbogen wird vornehmlich durch die Mordgeschichten aus der Vergangenheit in den Jahren 1943 und folgenden gehalten. Demgegenüber bleiben die angeblichen Unruhen in Europa zu unbestimmt beschrieben. Dass Goullet nicht seinen gebuchten Rückflug von Frankreich aus antreten kann, sondern nach Spanien flüchten muss, wie einst die Kriegsflüchtlinge des Zweiten Weltkriegs, wirkt konstruiert.


Auch die Hauptfigur bleibt unscharf umrissen. Von dem eigentlichen Charakter Goullets erfährt der Leser wenig. Seine Psychose bleibt für seine Mitmenschen geheim. Das Abbrennen des Hauses seiner Adoptiveltern führt nicht zu einem runden Ende der Erzählung oder der Ausarbeitung des Charakters der Figur Goullet. Vielmehr hätte der Autor ab Seite 278 auf das Ende verzichten können.


Der Autor hätte sich vermutlich besser auf den historischen Teil des Romans konzentrieren und diesen sauber recherchieren sollen.


Fazit:
Wie zahlreiche Rezensenten in der Presse bemängelten unsere Leser vor allem Stil und Sprache sowie den Aufbau der Story. Die Konstruktion wurde als mühsam und zu gewollt empfunden. Obgleich der Roman in der Zukunft spielt, ist er wenig futuristisch oder kreativ. Negativ fiel auch ins Gewicht, dass der Handlungsfaden nicht immer gut nachvollzogen werden konnte und die jeweilige Zeitschiene nicht immer kenntlich gemacht wurde.


Dies geht auch zu Lasten der Spannung, welche die kleine Detektivgeschichte um den Doppelgänger der Hauptfigur zu bieten hat. Das Thema, insbesondere das Näherbringen von Kriegsverbrechen in Frankreich und die damalige Besatzungszeit, war für einen Teil der Leser aber interessant.


Insgesamt kommt die Gruppenbewertung jedoch nicht über knappe zwei Punkte hinaus. (sp)

 

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