Literatur am Abend: Montag, 15. April, 19.30 Uhr
Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Clemens J. Setz: "Indigo“

Experimentell, spannend, gruselig
Suhrkamp, 479 Seiten


Inhalt
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren (Relokationen). Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt zunächst nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen.


Fünfzehn Jahre später (2021) berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal ermordet zu haben. Doch der Vorwurf klebt, ebenso wie der des Alkoholismus, weiter an Setz.


Die Geschichte eines seiner ehemaligen Schüler, Robert Tätzel, ist mit der Recherche des Lehrers in Sachen der Indigokinder verflochten, wobei der Erzählstrang über den Lehrer sich zeitlich auf den des 2021 erwachsen gewordenen, „ausgebrannten“ Indigos Robert zubewegt. Beide treffen sich am Ende, dessen Tragik in der Kommunikationsbarriere besteht: Der Lehrer ist 2021 zu verrückt für das Gespräch geworden, das der Schüler 2007 wegen des Indigosyndroms noch nicht mit ihm führen konnte.


Stil & Sprache
Setz‘ Diktion, überzeugend in direkter und indirekter Rede, hat uns gut gefallen und das Kriterium der Lesbarkeit allemal efüllt. Ungewöhnlich, und damit für manchen auch gewöhnungsbedürftiger, ist die experimentelle Struktur, in der Setz mit täuschend echten „Originaldokumenten“ den Wirklichkeitsbegriff eines jeden ad absurdum zu führen versucht.


Dramaturgie & Plot
Die Eigenart der Andeutung, nach dem Vorbild der klassischen Gruselgeschichte, betrifft bei Setz ganze Handlungsstränge und zerrt an den Lesernerven – dies ist übrigens ein erklärtes Ziel des Autors. Zeitsprünge, Rechercheschnipsel und verschlungene Fährten fordern – nicht gerade entspannend, aber spannend.


Themen des Buches
Das Themenspektrum ist nichts für zarte Gemüter und hat den ein oder anderen bewogen, das Buch entweder frühzeitig aus der Hand zu legen oder Passagen zu überspringen. In beunruhigend wenig absurden Zukunftsvisionen zeigt Setz Sadismus gegen Menschen und Tiere, der unter allerlei Deckmänteln, oft auch unverborgen daherkommt. Di autismusähnliche Kinderkrankheit und deren soziale Quarantäne, fatale Annäherungsversuche Kranker untereinander, Kranker und Gesunder, Gesunder und Rekonvaleszenter, trotz der erzwungenen Distanz, (Selbst-)mord, Verschwinden und dessen Aufklärungsversuche, die ins Irrsein führen – wer sich auf avantgardistische passt-in-kein-Genre-Weise gruseln will, ist bei Setz richtig.


Die Bewertung
An diesem Roman scheiden sich die Gemüter - das aber auf hohem Niveau, wie unsere Durchschnittsnote von 3,5 zeigt.
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