Buchkritik von sho
Schwierige Lektüre, sehr eigenwillig, fragmentierte Sprache und Handlung
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2014, 544 Seiten
Was für ein vielversprechendes Thema: Der Autor David Peace arbeitet den britischen Bergarbeiterstreiks von 1984-85 auf. Margaret Thatcher geht mit aller Vehemenz gegen die Gewerkschaften vor. Nach einem Jahr hartem Streik sind die Gewerkschaften am Boden zerstört, eine politische Wende ist eingeleitet worden.
In die Aufarbeitung dieser britischen Geschichte verwoben ist eine Kriminalhandlung, die Spannung verspricht. Und nicht zuletzt ist der Autor mit Preisen dekoriert und das Buch in den Feuilletons hoch gelobt. Wir haben uns viel versprochen von dem Buch - es wurde uns nicht eingelöst.
Aufbau und Struktur
GB84 ist ein akribisch komponierter Roman: Der einjährige Streik findet sich in 53 Kapiteln des Buches wieder, jede Streikwoche wird in einem eigenen Kapitel beschrieben. In jedem Kapitel werden drei Erzählstränge weitergeführt. Jeder Erzählstrang hat seine eigene Sprache, eigene Zeitebene und sogar eigene Typografie. Und nicht nur der Erzählrahmen ist komponiert, auch die Sprache ist vielschichtig arrangiert. Jede Überschrift birgt Doppeldeutiges, Namen und Pseudonyme sind höchst bedeutungsschwanger. Gedichtzeilen werden eingestreut, Satzfetzen in altertümlichen Sprachen eingewoben.
In diesen kompositorischen Rahmen wollte der Autor das widerspiegeln, was seiner Meinung nach den Bergarbeiterstreik kennzeichnete: chaotische Strukturen, unklare Machtverhältnisse, ein Umfeld von Bedrohung, Machtmissbrauch, Korruption und die Unfähigkeit und den Unwillen aller beteiligten Parteien zu einer einvernehmlichen Kommunikation oder gar einem Kompromiss zu kommen. Dieses Durcheinander zu dechiffrieren ist aber in Deutschland, 30 Jahre nachdem der Streik in Britannien zu Ende gegangen ist, nicht mehr möglich.
Zwei Beispiele mögen das veranschaulichen:
- Die zentrale Krimi-Handlung rankt sich um einen schiefgelaufenen Job einer Bespitzelungs-Truppe, bei der die abzuhörende ältere Dame zu Tode kommt. Dass es sich dabei um einen hochbrisanten, bis heute ungeklärten Mord der Atom-Gegnerin Hilda Murrell handelt, wird keinem deutschen Leser erkennbar werden. Die Brisanz der These von David Peace, dass letztendlich die Regierung in diesen Mord verwickelt ist, bleibt damit dem deutschen Leser ebenfalls verborgen.
- Zahlreiche hochpolitische Thesen des Autoren finden 2014 in Deutschland keinen Widerhall. So stellt Peace in GB84 dar, wie der britische MI5 den Gewerkschaftsboss Terry Winter (damals Roger Windsor) dazu bringt, sich mit Gaddafi zu treffen. Die Presse lichtet den Gewerkschaftsboss ab, eine Woche nachdem eine britische Polizistin mit einem Schuss aus der Lybischen Botschaft ermordete wurde. Es war ein Auftritt, der in Britannien offensichtlich bis heute präsent ist: "Who can forget the television Images of Roger Windsor kissing Gadaffi in his tent?" Diese Fernsehbilder sind in Deutschland nicht präsent - und somit wird die politische Brisanz der These, dass der MI5 dieses Image zerstörende Marketingdesaster der Gewerkschaft zu verantworten hatte, nicht klar.
Stil und Sprache
Die Sprache, in der der Roman verfasst ist, macht das Lesen und Dechiffrieren nicht einfacher. Denn David Peace erzählt nicht nur ein Geschichte oder Handlung, sondern er formt mit seiner Sprache eine Melodie, die in sich selber bereits etwas ausdrückt. Seine fragmentierte Sprache mit Stakkato-Wörter und -Sätze zeugen von verzweifelten Menschen die sich in einer zertrümmerten Welt bewegen.
Nach eigener Aussage hätte Peace zudem gerne noch mehr Altenglisch, lateinische und französische Wörter eingestreut, um die Referenz auf den Normannen William the Conqueror (Wilhelm den Eroberer) zu ziehen, der 1066 England eroberte. In der Tradition von William, der damals England und Yorkshire überrannte und in den folgenden Jahren lokale Aufstände blutig unterdrückte, sieht der Autor das Vorgehen von Thatcher gegen die streikenden Bergarbeiter. (1)
Und schließlich kommt in diese Mischung von angedeuteten Namen und Handlungen, geschrieben in einer höchst eigenwilligen Stakkato-Sprache noch der erklärte Willen des Autoren, das Chaos des Streiks und die unklaren Machtverhältnisse dieser Zeit in seinem Roman genauso abzubilden. Das heißt es gibt auch in dem fiktiven Krimi-Geschehen keine eindeutige Struktur. Jeder betrügt jeden, wer von wem welchen Auftrag bekommt, bleibt willentlich im Unklaren. Nur durch indirektes Schlussfolgern wird klar, welche Motive bei welchem Protagonisten zu welchen Handlungen führt.
Bewertung
Was für den heutigen Leser außerhalb Großbritanniens übrig bleibt, ist ein sehr schwer lesbares Buch, das eindrucksvoll darstellt, wie Thatcher einen persönlichen Krieg gegen die Gewerkschaften führt und wie die Streikenden von einer instrumentalisierten Presse als "Feind im Staat" verunglimpft wurden. Und es bleibt ein Krimikonstrukt, das mehr von Stimmung und Sprachmelodie lebt denn von stringenter Handlung. Eine Sprachmelodie, die sich zudem nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt.
David Peace weiß, wie schwierig er schreibt. Sein kommerzieller Erfolg verwundert ihn selber. Er geht sogar davon aus, dass viele seiner Bücher nur aufgrund der guten Kritiken gekauft werden, von Lesern, die nicht wissen worauf sie sich einlassen. Leser, die dann nach den Erstseiten-Schock das Buch für immer zur Seite legen. (2)
Und genauso erging es uns. Niemand von uns kam über ein Drittel des Buches hinaus. Unsere These: Nur sehr wenige Leser werden in Deutschland das Buch und den Krimi genießen können.
Referenzen und Sekundärliteratur zu GB84
(1) "I particularly wanted to excise as much Latin and French derived words from the text as possible. This relates to the idea of the North, and of Yorkshire in particular, being a separate country within a country. Thatcher's treatment of the miners, for me, echoed William the Conqueror's 'Harrowing of the North' - when Norman troops killed every male in Yorkshire and salted the earth - following his victory at Hastings"
Zitat David Peace aus: "The Strange Language of David Peace or The Exile from Yorkshire" Stéphanie Benson, 2009
europolar.eu
(2) Sehr interessantes Interview mit David Peace
bei Spiegel Online
(3) "The Third English Civil War: David Peace's "Occult History" of Thatcherism" von Matthew Hart
Contemporary Literature
Volume 49, Number 4, Winter 2008
Seiten 573-596
online
(4) “A Scar Across the Country”: Representations of the Miners’ Strike
in David Peace’s GB84, Rhona Gordon
Kapitel 11, Seiten 142-151 aus: "Digging the Seam, Popular Cultures of the 1984/5 Miners’ Strike", Edited by Simon Popple and Ian W. Macdonald, Cambridge Scholars Publishing
cambridgescholars