Buchkritik, Rezension
Dorothee Riese: Wir sind hier für die Stille
Eine deutsche Familie wandert mit ihrer kleinen Tochter nach Rumänien aus. Wir erleben, wie die Tochter dort aufwächst, Beziehungen knüpft und mit den Widersprüchen aus mitgebrachter Utopie und vorgefundener Realität umgeht. Die Autorin hat am Leipziger Literaturinstitut studiert. Wir fanden das Thema sehr interessant, die fragmentarische Erzählweise jedoch sehr anstrengend.
Abb. © Verlag
Bewertung der hamburgerShortlist:
2.9 von 5 Punkten
Buchkritik von dd
Autofiktionaler Coming-of-Age-Roman über ein soziales Experiment im Rumänien der 90iger-Jahre
Berlin Verlag, 2024, 235 Seiten
Handlung:
Judith ist ein Kleinkind, als ihre Eltern Anfang der 90er Jahre beschließen – ganz gegen den Trend – aus Deutschland in Richtung Rumänien auszuwandern. Erzählt wird in zahlreichen Episoden die Geschichte Judiths, die versucht, sich in die multiethnische Gesellschaft des siebenbürgischen Dorfes Sarmizegetusa einzuleben. Die Leser*in erkundet mit ihr die soziale Geografie des Dorfes in einer nach der Revolution von 1989 zutiefst verunsicherten Gesellschaft.
Wir lernen bruchstückhaft die Geschichte und Motivation der Eltern kennen, die Rumänien als Ort der Möglichkeit einer neuen gerechteren Gesellschaft ausgemacht haben und mit ihrer kleinen Tochter auswandern. Im Dorf angekommen erfahren wir über Bemühungen und Projekte der Eltern, um dort Fuß zu fassen, werden gewissermaßen Zeug*innen eines sozialen Experimentes.
Zentral werden die Begegnungen Judiths mit sehr unterschiedlichen Personen erzählt; mit der alten übriggebliebenen Siebenbürgerin Lizitanti, die Judith ins Herz schließt und ihr den Hahn Heinrich schenkt, mit Irina aus einer Romafamilie, die zur besten Freundin wird, mit rumänischen und ungarischen Familien, mit Lehrerinnen, mit Pastoren lutherischer (siebenbürgischer) und orthodoxer (rumänischer) Konfession.
Wir begleiten Judith auf ihrem Weg der Selbstwerdung in der rumänische Gesellschaft bis hin zur Pubertät mit erster Verliebtheit, erleben, wie sie schließlich in die Stadt auf eine weiterführende Schule geht.
Über die Autorin:
Dorothee Riese wurde 1989 bei Göttingen geboren und ist in Rumänien aufgewachsen, nachdem ihre Eltern mit ihr auswanderten, als sie vier Jahre alt war. Mit 19 Jahren verließ sie Rumänien in Richtung Sachsen-Anhalt. Sie absolvierte einen Freiwilligendienst in Paris, studierte Slawistik und später als Masterstudentin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie arbeitet am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa. Dies ist ihr erster Roman.
So klingt der Roman:
Die Autorin erzählt -in der dritten Person- aus der Perspektive und Erlebniswelt des kleinen Mädchens Judith die Erkundung des siebenbürgischen Dorfes Sarmizegetusa. In zahlreichen Episoden werden wir Zeug*innen der Begegnungen mit Örtlichkeiten und Familien des Dorfes und ihrer verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten. Die Erzählung wirkt in wenig verbundenen Episoden bruchstückhaft, ein Stilmittel, das laut Kritiken und der Autorin selbst die Orientierungsprobleme eines kleinen Mädchens darstellen will.
Es erfordert doch einiges Vorwissen, wenn die Leser*in ein Bild der sozialen Beziehungen im Dorf gewinnen will. Die Personen, zu denen Judith Kontakte knüpft, werden fein gezeichnet. Und doch bleibt es angesichts einer wenig ausgeformten Chronologie in diesem Entwicklungsroman anstrengend, der Geschichte des Mädchens zu folgen.
Bewertung:
Trotz eines sehr interessanten Themas konnte der Roman unsere -durch viele positive Rezensionen geweckten - Erwartungen nicht erfüllen.
Obwohl einige schöne Miniaturen gefunden wurden, empfanden wir das Buch insgesamt als zu fragmentarisch erzählt und in der Gänze als letztlich nur anstrengend lesbar. Unsere Wertung: 2,9 von 5 möglichen Punkten.