Buchkritik, Rezension
Mithu Sanyal: Identitti
Eine junge Studentin diskutiert in Social Media und an der Uni über Identitätspolitik und erlebt einen Shitstorm. Der Plot bleibt nach einem Drittel des Buches stecken. Das Thema ist interessant. Aufbau, Stil und Sprache halten jedoch nicht mit.
Abb. © Verlag
Bewertung der hamburgerShortlist:
2.6 von 5 Punkten
Buchkritik von sp
Als Roman getarnter Essay über eine feminine Identitätspolarität
Carl Hanser Verlag, 2021, 424 Seiten
Der Plot
Identitti ist der Nickname der jungen Bloggerin und Studentin Nivedita, die in Deutschland lebt. Sie äußert sich zu Rassismus, Migrationsgeschichte, sexuellen Identitäten sowie Orientierungen und führt identitätspolitische Debatten auf mehreren Social-Media-Accounts.
Die Herkunft ihrer Eltern – ihre Mutter ist aus Polen, ihr Vater aus Indien – konfrontiert Nivedita mit verschiedenen Kulturkreisen. Sie verehrt ihre Professorin für postkoloniale Theorie und schwärmt für deren Ansichten zum Thema rassistische Diskriminierung. Die Professorin, die sich nach der hinduistischen Göttin selbst Saraswati nennt, gibt vor, indischer Abstammung zu sein. Nivedita schwärmt auch für ihre Kusine väterlicherseits, Pretty, die von England nach Deutschland kommt. Liebesgeschichten dieser drei Protagonisten flankieren die Stories um die Identitätssuchen von Nivedita und Prof. Saraswati. Beide geraten in einen digitalen Shitstorm, als Prof. Saraswati ihre wahre Identität publik macht.
Zur Autorin:
Dr. Mithu Sanyal (51) lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Düsseldorf-Oberbilk und ist vor allem als Journalistin, u. a. für die Tageszeitung (taz), Frankfurter Rundschau, den WDR, NDR und BR, tätig. Sie studierte deutsche und englische Literatur. Aus ihrer Doktorarbeit über die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts entstand 2009 ihr erstes Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts”, das 2017 neu aufgelegt wurde. Für ihre 2016 erschienene Debattengeschichte „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ wurde sie mit dem Preis „Geisteswissenschaften international“ ausgezeichnet. Diese Veröffentlichung wurde allerdings kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert. „Identitti“ ist Sanyals Romandebüt. Im Oktober 2021 wurde sie vom PEN-Zentrum-Deutschland aufgenommen.
Viele philosophische Ansätze ohne echte Konflikte
Der Roman spielt im universitären Milieu und enthält daher zahlreiche theoretische Reflexionen. Die Figuren des Romans wirken als Vehikel, um die Thesen platzieren zu können; sie tragen die Theorien der Autorin. Die Autorin spielt mit Assoziationen und Zitaten aus der Weltgeschichte. Die sind nur für die erkennbar, die das nötige Hintergrundwissen haben.
In Rezensionen wurde der Roman überwiegend sehr positiv besprochen, zumal das Thema anfangs erfrischend und locker mit einem gewissen Witz begonnen wurde.
Der Hamburger Shortlist hat die Idee des Buches zwar grundsätzlich gefallen, allerdings bleibt nach der überwiegenden Auffassung der Gruppe der Plot nach etwa einem Drittel des Buches stecken.
Denn Nevidita befindet sich nach dem Auffliegen der Identität der Professorin fast nur noch in deren Wohnung. Die Themen werden diskutiert, zum Teil aber zu flach abgehandelt.
Auffällig ist, dass die Eltern von Nevidita nur eine nebensächliche Rolle spielen. Ihre Mutter wirkt eher schlicht, der Vater verständnislos. Dies mag ein Grund sein, weshalb Nevidita Halt bei ihrer Professorin sucht. Diese Figur wiederum stellte im Grunde eine doppelte Provokation dar: Sie verschleiert einerseits die Herkunft und Identität ihrer Person und gibt vor eine sogenannte „Person of Colour“, kurz PoC, zu sein. Andererseits wirft sie die Frage auf, ob eine Person, die – offiziell – keine PoC ist, sich zu Themen, die PoC angehen, äußern darf und sollte.
Diese sowie einige andere Situationen werden im Buch ins Absurde gesteigert und überdreht. Was als humorvolles Gestaltungsmittel gedacht ist, führt dazu, dass die inhaltliche Debatte vom Leser nicht mehr ernst genommen wird.
Durch die zahlreichen Erläuterungen wirkt der Roman zudem sehr belehrend. Dem Leser werden Meinungen regelrecht aufdoktriniert. Ein „Soll“ lässt jedoch keinen positiven Zugang zum Thema zu.
Die Absicht des Buches ist nicht klar: Es ist halb dokumentarisch, manches wirkt jedoch überkonstruiert. Darüber hinaus gefiel den meisten aus der Gruppe die sehr lockere, jugendliche Sprache nicht. Wegen des fehlenden klassischen Handlungsstranges wurde das Buch als eher anstrengend empfunden.
Bewertung
Das Thema des Romans wurde mit 3,8 von 5 Punkten als interessant eingestuft. Die Bewertungen von Stil und Sprache, Aufbau und Dramaturgie sowie Plot und Handlung erreichten nur zwischen 2,1 und 2,4 Punkten. Das Buch wurde daher mit 2,6 Punkten nur durchschnittlich gern gelesen. Insgesamt ergab die Gruppenbewertung 2,6 Punkte.