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Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Anna Katharina Hahn: "Am Schwarzen Berg“

Dramatisch, präzise, dabei leicht und schön zu lesen.
Suhrkamp, 2012, 236 Seiten


Emil und Veronika Bub haben die Hoffnung auf ein eigenes Kind aufgegeben müssen. Als der ehrgeizige Arzt Hajo Rau mit seiner Frau und ihrem neunjährigen Sohn Peter im Nachbarhaus einziehen, wird der Junge für das kinderlose Ehepaar Bub zu einem Ersatzsohn. Der Lehrer und Mörike-Verehrer Emil und seine Frau Veronika knüpfen mit kleinen und großen Kniffen den Nachbarssohn eng an sich - Peter wächst gleichsam mit zwei Elternpaaren auf. In dieser Konstellation entwickelt er sich zu einem Mann, der die ehrgeizigen Lebensziele seiner Eltern nicht übernimmt. Er macht sich nichts aus Besitz und Karriere. Lieber möchte er sich intensiv um seine beiden Söhne kümmern als eine Teilhaberschaft in der Logopädie-Praxis zu übernehmen, in der er angestellt ist. Für seine Ehefrau Mia, die als Tochter einer allein erziehenden Putzfrau aufwuchs und sozial aufsteigen möchte, wird seine Leistungsverweigerung im Lauf der Jahre unerträglich.


Der Roman "Am Schwarzen Berg" von Anna Katharina Hahn beginnt kurz vor dem Ende: Peter wurde vor wenigen Wochen von seiner Frau verlassen und dadurch psychisch und physisch aus der Bahn geworfen. Sowohl seine Eltern als auch seine Zieheltern aus dem Nachbarhaus versuchen, ihn aus seiner Depression zu befreien. In eingeschobenen Rückblenden erinnern sich Emil und Veronika an frühere Erlebnisse mit Peter. In den beiden vorletzten Kapiteln des Buches kommt Mia zu Wort. Aus ihrer Sicht wird die Entwicklung und das Scheitern der Ehe beschrieben. Im letzten Kapitel bringt die Autorin ihre Geschichte um Peter und seinen beiden Elternpaaren gekonnt zu einem dramatischen Ende.


Stil & Sprache:
Der Schreibstil der Autorin hat uns mehrheitlich sehr gefallen. Die Beschreibungen der Wohnsiedlungen in den Vororten von Stuttgart, die Darstellungen der lauen Sommerabenden in den kleinen Gärtchen vor den Einfamilienhäusern und auch das Ringen der beiden Elternpaare um ihr eigenes wie auch Peters Gleichgewicht sind fast schon poetisch. Die präzisen Beschreibungen von Stimmungen und Situationen sind leicht und schön zu lesen.

Störend allerdings empfanden wir teilweise die detailreichen und häufigen Hinweise auf Straßenzüge und -namen der Stadt Stuttgart. Auch die umfassenden Mörike-Passagen, in denen die Verehrung Emils zu dem schwäbischen Dichter ausgebreitet werden, sind wir etwas zu langatmig geraten.


Themen des Buches:
Die Autorin selber hat ihr Buch mit den Worten angekündigt "Es geht um die Liebe zwischen zwei Männern, eine Art Wahlverwandtschaft. Es geht um zwei Generationen und ihre Sehnsüchte. Es geht um Mörike und wieder um Stuttgart, mein ganz eigenes Stuttgart".


Diese Themen haben wir in dem Buch von Anna Katharina Hahn zwar wiedergefunden, fanden aber andere Handlungsstränge wesentlich vorherrschender: die erdrückende Liebe zweier Elternpaare auf ein Kind, die Obsession eines kinderlosen Paares mit dem Ersatzsohn und die sich über Generationen hinweg wiederholende Geschichte eines im Grunde narzisstischem Verhältnisses von (Ersatz-)Vater zu Sohn.


Die Bewertung:
In unserem Kreis wurde das Buch fast ausnahmslos gerne gelesen. Die Bewertungen spiegeln das wider: fast alle abgegebene Werte liegen zwischen 3 und 4 Punkten. (ka)

 

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