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Edna O’Brien: "Die kleinen roten Stühle“ Kriegsverbrecher betört irisches Dorf
Steidl Verlag 2017, 344 Seiten Die Geschichte: Die unglücklich verheiratete Fidelma, früher Inhaberin einer Modeboutique, die dem infrastrukturellen Aufschwung der Region zum Opfer fiel, hat einen dringlichen Kinderwunsch. Sie verliebt sich in Dr. Dragan und bietet sich ihm an, um ein Kind zu zeugen. Dr. Dragan lässt sich darauf ein und entwickelt parallel leicht skurrile Nebentätigkeiten als Kindergärtner und Führer einer literarischen Reisegruppe. Doch ein Dorfbewohner, Immigrant aus Dr. Dragans Heimat Serbien, erkennt ihn. Noch im Reisebus wird Dragan verhaftet und zum Kriegsverbrechertribunal in DenHaag gebracht. Für die schwangere Fidelma beginnt nun eine Odysse des Verrats, der Stigmatisierung, der Gewalt, der Heimatvertreibung und des Rassismus. Stil & Sprache: Einige störten sich an den vielen, willkürlich und teils zusammengewürfelt wirkenden Zeit- und Perspektivsprüngen. Andere sahen in der leicht chaotischen Form einen passenden, technisch virtuosen Spiegel der chaotischen Ereignisse vor Allem des zweiten und dritten Teils. Auch das Tempo steigert sich vom zweiten Teil an deutlich, möglicherweise aus demselben Grund. Plot & Dramaturgie: Kollektive Schuld, kollektive Schuldverdrängung per Sündenbock sowie individuelle Fahrlässigkeit und Naivität sind die zentralen Themen dieses Romans, der seine in der Presse gepriesene Virtuosität erst auf den zweiten Blick entfaltet. Das Wissen um den historischen Hintergrund ist Voraussetzung dafür. Wie aus Briefen angedeutet weist die Figur Dragan starke Bezüge zu Radovan Karadzic auf, einem der verurteilten Hauptkriegsverbrecher aus den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren. Den Landsleuten von Radovan Karadzic wurde vorgeworfen, ihn jahrelang gedeckt und versteckt zu haben. Denn er praktizierte, obwohl als Kriegsverbrecher gesucht, jahrelang nach Kriegsende als Heilpraktiker in Belgrad. Mithin unterstellte man seinen Landsleuten, was auch die Figur des Dr. Dragan bis zum Ende aufrecht erhält: Die Billigung von Völkermord als „Notwehr“ und deren religiöse und völkische Motivation als sich im Zirkelschluss selbsterklärende, legitime Weltanschauung. Bewertung: (ak) | |
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