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Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens“

Autobiographische, bedrückende Missbrauchsgeschichte
Suhrkamp, 2018, 163 Seiten


Das Buch:
Bei Erinnerung eines Mädchens handelt es sich um ein autobiographisches Werk. Die Schriftstellerin Annie Ernaux, geborene Duchesne, thematisiert ihr widerfahrene wiederholte sexuelle Nötigung in der späten Jugend und deren Folgen. Insofern handelt es sich um ein weiteres Stück „Erinnerungsarbeit“ im autobiographisch geprägten Oeuvre der Autorin.
Im Sommer 1958 arbeitet Annie, die aus einfachen Verhältnissen und einem katholischen Elternhaus stammt, als Kinderbetreuerin in einer Ferienkolonie in Nordfrankreich. Sie ist die jüngste Betreuerin und versucht Anschluss zu finden. Eines Abends wird sie von H, dem „Chefbetreuer“, sexuell genötigt. Sie ist von ihm fasziniert, aber es geht ihr alles viel zu schnell; er missbraucht seine Position. Nach dieser Nacht ist sie verfemt, hat einen schlechten Ruf, wird gemobbt und ausgegrenzt. Eine Erfahrung, die Annies gesamtes weiteres Leben prägen wird und mitursächlich für eine spätere Bulimie sein dürfte.


Stil & Sprache:
Während Annie Ernaux in ihrem Werk Die Jahre den Versuch einer unpersönlichen, kollektiven Biographie unternommen hat, stellt Erinnerung eines Mädchens das literarisierte Ringen mit einem biographischen Zentralereignis dar. Dieses Ringen drückt sich auch in der – sehr bewusst – gewählten Sprache aus. Das Ringen nach Worten, der Versuch, das Unverständliche verständlich zu machen, durch Literarisierung dem Vergessen zu entkommen, durch die Spaltung des Ichs in ein Jetzt-Ich und ein Damals-Ich die Scham und den Schmerz ertragbar zu machen – für all dies findet Ernaux kunstvolle sprachliche Lösungen. Die Betroffenheit, die man als Leserin/Leser verspürt, entsteht indes nicht aus Effekthascherei oder Emotionalisierung.


Weitere Themen des Buchs:
Erinnerung eines Mädchens ist allerdings nicht allein die autobiographische Aufarbeitung einer aversen, tief prägenden Erfahrung und deren psychischen, sozialen und biographischen Folgen, sondern auch ein kompaktes Sittengemälde Frankreichs der 1950er-Jahre. Das Buch macht die herrschenden Geschlechterrollen, Wertevorstellungen, aber auch allgemein den kulturellen Kontext „greifbar“.


Bewertung:
Erinnerung eines Mädchens wurde von uns verhältnismäßig kontrovers diskutiert und bewertet. Auffällig ist, dass über die Hälfte der Versammelten das Buch nicht gerne oder eher nicht gerne gelesen haben, teils darin begründet, dass sie das Buch persönlich berührt habe, aber auch in der spannungs- und handlungsarmen Geschichte. Leicht überdurchschnittlich wurde der Stil beziehungsweise die Sprache Ernaux‘ bewertet. Teilweise längere, komplizierte Satzkonstruktionen wurden nicht als störend, sondern mehr als Stilmittel gesehen. Als „spannend“ wurde die Lektüre nur selten bezeichnet, wohl darin begründet, dass es sich um ein Stück autobiographischer Literatur handelt und zentrale Ereignisse bereits recht früh antizipiert werden. Gelobt wurde das Greifbarmachen des Schamgefühls Ernaux‘ und ihr Porträt der französischen Gesellschaft der 1950er-Jahre. Insgesamt wurde das Buch im Durchschnitt mit 2,7 von maximal 5,0 zu erreichenden Punkten bewertet und liegt damit im Mittelfeld (Range: 1,6 bis 3,9 Punkte). ()

 

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