368 Seiten, Ullstein Verlag, Berlin 2018
Spannende 60er Jahre Themen, sprachlich einfach verpackt
Die Idee:
Der erste Auschwitzprozess, der Ende 1963 in Frankfurt begann und bis 1965 andauerte, verändert das Leben der Hauptprotagonistin Eva Bruhns. Sie muss in diesem Gerichtsverfahren die Aussagen der polnischen Zeugen übersetzen und am Ortstermin in Auschwitz teilnehmen. Herausgerissen aus der von ihren Eltern aufgebauten Idylle, die einen dörflichen Gasthof betreiben, erfährt Eva im Laufe der Handlung die Wahrheit über ihre Kindheit, die damalige Arbeit ihres Vaters und die Geheimnisse ihrer älteren Schwester sowie ihres angehenden Verlobten.
Insbesondere innerhalb der Beziehung zu ihm, der ebenso wie ihre Eltern gegen ihre Mitarbeit im Jahrhundertprozess ist, emanzipiert sich die brave Eva und nabelt sich letztlich auch von ihrer Familie ab.
Annette Hess hat einen historischen, fiktiven Roman aus der personalen Erzählperspektive – der der Eva Bruhns – geschrieben. Sie macht damit auch darauf aufmerksam, wie die Kriegsgeschehnisse bei den Betroffen nachwirken und welche Form der Verantwortung sie bereit sind zu übernehmen.
Vom – mittlerweile als Nazi-Jäger bezeichneten – Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, als deutscher Jude selbst ehemaliger KZ-Häftling, gingen die Anklagen gegen insgesamt 21 Männer, größtenteils zur Funktionsebene der führenden SS-Belegschaft des von 1940 bis 1945 bestehenden Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gehörend, aus. Ihm stellt Annette Hess einen überengagierten Rechtsreferendar, David Miller, zur Seite.
Zu viele Nebenstränge und Zufälligkeiten
Annette Hess ist eine preisgekrönte Drehbuchautorin, u.a. von den TV-Serien „Wannensee“, „Ku’damm ‘56“ und „Ku’damm ‘59“. Leider schafft sie immer wieder Nebenfiguren und –stränge, und lässt sie jedoch ebenso schnell wieder aus der Geschichte verschwinden wie sie entwickelt wurden. So wird die Aussage des ersten polnischen Zeugen Cohn sehr emotional beschrieben, endet umgehend danach aber mit dem Selbstmord des Zeugen.
Die Figur David Miller, der zunächst eine – tatsächlich nicht existente – KZ-Vergangenheit vorgibt, fällt aus der eigentlichen Geschichte heraus und bringt diese nicht voran. Soweit die Autorin damit – wie in einigen Rezensionen zu lesen ist – ausdrücken wollte, dass jeder Jude an Ausschwitz leide, hätte dies vielleicht mit effektiveren und leichteren Mitteln geschehen können. Eine Liebesnacht auf dem Gelände des ehemaligen KZ mit der Hauptprotagonistin bringt einem diese Schlussfolgerung nicht näher.
Die Infizierung von frisch geborenen Säuglingen durch Evas Schwester im Krankenhaus und eine zur Tötung führende Körperverletzung eines mit dem Fallschirm abstürzenden Amerikaners durch Evas Verlobten Jürgen haben selber gar keinen Bezug zum Auschwitzprozess. Dass Eva zufällig auf wichtige Zeugen wie Cohn trifft, wirkt sehr konstruiert. Das gilt auch für das symbolhafte kleine rote Paket des heiligen Königs der Weihnachtspyramide, das jahrelang verschwunden war, im Ortstermin jedoch wieder zutage tritt. Die Romanfiguren sind letztlich zum Teil zu schablonenhaft dargestellt und stark überzeichnet.
Immerhin ist der Plot spannend und ohne größere Längen gestaltet. Er erinnert dabei eher an ein Drehbuch als an einen Roman und ist rein chronologisch aufgebaut.
Eine Atmosphäre aufzubauen, gelingt der Autorin nicht immer. Der Roman ist nicht in besonderer literarischer Weise geschrieben. Das Buch ließ sich leicht lesen, bot sprachlich allerdings kaum Tiefgang. Die Wortwahl ist vergleichsweise einfach; Vergleiche und Metaphern werden zu wenig verwendet oder sind fehl am Platz.
Bewertung
Das Thema war fast allen LeserInnen wichtig, doch die Schwächen des Buches fielen zu sehr auf. Die Figuren wirken um den historischen Gerichtsprozess herum konstruiert. Gewürdigt wurde in unserem Kreis, dass die Autorin die Denkweise der 60er Jahre, insbesondere auch bezüglich des damaligen Frauenbildes, traf und auch die „Verdrängungstaktik“ hinsichtlich der NS-Greueltaten glaubhaft wiedergab.
Insgesamt erhielt das Buch daher 3 Punkte in der Gesamtbewertung. Thema und die aufgebaute Spannung wurden am besten bewertet, mit bis zu 5 Punkten in der Einzelnote. (sp)