Literatur am Abend: Montag, 15. April, 19.30 Uhr
Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Annette Hess: "Deutsches Haus“

368 Seiten, Ullstein Verlag, Berlin 2018
Spannende 60er Jahre Themen, sprachlich einfach verpackt


Die Idee:
Der erste Auschwitzprozess, der Ende 1963 in Frankfurt begann und bis 1965 andauerte, verändert das Leben der Hauptprotagonistin Eva Bruhns. Sie muss in diesem Gerichtsverfahren die Aussagen der polnischen Zeugen übersetzen und am Ortstermin in Auschwitz teilnehmen. Herausgerissen aus der von ihren Eltern aufgebauten Idylle, die einen dörflichen Gasthof betreiben, erfährt Eva im Laufe der Handlung die Wahrheit über ihre Kindheit, die damalige Arbeit ihres Vaters und die Geheimnisse ihrer älteren Schwester sowie ihres angehenden Verlobten.
Insbesondere innerhalb der Beziehung zu ihm, der ebenso wie ihre Eltern gegen ihre Mitarbeit im Jahrhundertprozess ist, emanzipiert sich die brave Eva und nabelt sich letztlich auch von ihrer Familie ab.


Annette Hess hat einen historischen, fiktiven Roman aus der personalen Erzählperspektive – der der Eva Bruhns – geschrieben. Sie macht damit auch darauf aufmerksam, wie die Kriegsgeschehnisse bei den Betroffen nachwirken und welche Form der Verantwortung sie bereit sind zu übernehmen.


Vom – mittlerweile als Nazi-Jäger bezeichneten – Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, als deutscher Jude selbst ehemaliger KZ-Häftling, gingen die Anklagen gegen insgesamt 21 Männer, größtenteils zur Funktionsebene der führenden SS-Belegschaft des von 1940 bis 1945 bestehenden Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gehörend, aus. Ihm stellt Annette Hess einen überengagierten Rechtsreferendar, David Miller, zur Seite.


Zu viele Nebenstränge und Zufälligkeiten
Annette Hess ist eine preisgekrönte Drehbuchautorin, u.a. von den TV-Serien „Wannensee“, „Ku’damm ‘56“ und „Ku’damm ‘59“. Leider schafft sie immer wieder Nebenfiguren und –stränge, und lässt sie jedoch ebenso schnell wieder aus der Geschichte verschwinden wie sie entwickelt wurden. So wird die Aussage des ersten polnischen Zeugen Cohn sehr emotional beschrieben, endet umgehend danach aber mit dem Selbstmord des Zeugen.
Die Figur David Miller, der zunächst eine – tatsächlich nicht existente – KZ-Vergangenheit vorgibt, fällt aus der eigentlichen Geschichte heraus und bringt diese nicht voran. Soweit die Autorin damit – wie in einigen Rezensionen zu lesen ist – ausdrücken wollte, dass jeder Jude an Ausschwitz leide, hätte dies vielleicht mit effektiveren und leichteren Mitteln geschehen können. Eine Liebesnacht auf dem Gelände des ehemaligen KZ mit der Hauptprotagonistin bringt einem diese Schlussfolgerung nicht näher.
Die Infizierung von frisch geborenen Säuglingen durch Evas Schwester im Krankenhaus und eine zur Tötung führende Körperverletzung eines mit dem Fallschirm abstürzenden Amerikaners durch Evas Verlobten Jürgen haben selber gar keinen Bezug zum Auschwitzprozess. Dass Eva zufällig auf wichtige Zeugen wie Cohn trifft, wirkt sehr konstruiert. Das gilt auch für das symbolhafte kleine rote Paket des heiligen Königs der Weihnachtspyramide, das jahrelang verschwunden war, im Ortstermin jedoch wieder zutage tritt. Die Romanfiguren sind letztlich zum Teil zu schablonenhaft dargestellt und stark überzeichnet.


Immerhin ist der Plot spannend und ohne größere Längen gestaltet. Er erinnert dabei eher an ein Drehbuch als an einen Roman und ist rein chronologisch aufgebaut.
Eine Atmosphäre aufzubauen, gelingt der Autorin nicht immer. Der Roman ist nicht in besonderer literarischer Weise geschrieben. Das Buch ließ sich leicht lesen, bot sprachlich allerdings kaum Tiefgang. Die Wortwahl ist vergleichsweise einfach; Vergleiche und Metaphern werden zu wenig verwendet oder sind fehl am Platz.


Bewertung
Das Thema war fast allen LeserInnen wichtig, doch die Schwächen des Buches fielen zu sehr auf. Die Figuren wirken um den historischen Gerichtsprozess herum konstruiert. Gewürdigt wurde in unserem Kreis, dass die Autorin die Denkweise der 60er Jahre, insbesondere auch bezüglich des damaligen Frauenbildes, traf und auch die „Verdrängungstaktik“ hinsichtlich der NS-Greueltaten glaubhaft wiedergab.
Insgesamt erhielt das Buch daher 3 Punkte in der Gesamtbewertung. Thema und die aufgebaute Spannung wurden am besten bewertet, mit bis zu 5 Punkten in der Einzelnote. (sp)

 

Weitere Kritiken:

Juli Zeh Simon Urban: Zwischen Welten
Johan Theorin: Nebelsturm
Milena Michiko Flasar: Herr Kato spielt Familie
András Forgách: Akte geschlossen
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Jens Steiner: Carambole
Lily Brett: Lola Bensky
Ned Beauman: Der gemeine Lumpfisch
Jakob Guanzon: Überfluss
Jennifer Egan: Candy Haus
Fatman Aydemir: Dschinns
Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig
Isabel Allende: Violeta
Hernan Diaz: Treue
Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden
Eckhard Nickel: Spitzweg
Daniel Schreiber: Allein
Marie NDiaye: Die Rache ist mein
Jonathan Franzen: Crossroads
Stephan Thome: Pflaumenregen
Alex Schulman: Die Überlebenden
Mithu Sanyal: Identitti
Christian Kracht: Eurotrash
Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne
Ayad Akhtar: Homeland Elegien
Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück
Deniz Ohde: Streulicht
Adam Haslett: Stellt euch vor, ich bin fort
Mario Vargas Llosa: Harte Jahre
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben
Ulrich Tukur: Ursprung der Welt
Dror Mishani: Drei
Eugen Ruge: Metropol
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall
Monica Sabolo: Summer
Nell Zink: Virginia
Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
Maria Cecilia Barbetta: Nachtleuchten
Stephan Thome: Gott der Barbaren
Fernando Aramburu: Patria
João Tordo: Die zufällige Biographie einer Liebe
Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin
Robert Menasse: Die Hauptstadt
Yaa Gyasi: Heimkehren
Edna O’Brien: Die kleinen roten Stühle
Lauren Groff: Licht und Zorn
Franzobel: Das Floß der Medusa
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer
Nathan Hill: Geister
Ian McEwan: Nussschale
Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Han Kang: Die Vegetarierin
Steven Galloway: Der Illusionist
Jane Gardam: Ein untadeliger Mann
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Joost Zwagerman: Duell
Dietmar Dath: Leider bin ich tot
Sascha Reh: Gegen die Zeit
Andreas Kollender: Kolbe
Yiyun Li: Schöner als die Einsamkeit
Monique Schwitter: Eins im andern
Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren
Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter
Nadifa Mohamed: Black Mamba Boy
Amos Oz: Judas
Ludwig Winder: Der Thronfolger
Patrick Modiano: Gräser der Nacht
Carl Nixon: Settlers Creek
David Peace: GB84
Hilary Mantel: Die Ermordung Margaret Thatchers
Jhumpa Lahiri: Das Tiefland
Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen
Margriet de Moor: Melodie d'amour
Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah
Michael Chabon: Telegraph Avenue
Daniel Galera: Flut
Elizabeth Strout: Das Leben natürlich
Terézia Mora: Das Ungeheuer
Uwe Timm: Vogelweide
Leon de Winter: Ein gutes Herz
Ned Beauman: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort
Juli Zeh: Nullzeit
Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Richard Ford: Kanada
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend
Stephan Thome: Grenzgang
Ursula Krechel: Landgericht
Stephan Thome: Fliehkräfte
Clemens J. Setz: Indigo
Vea Kaiser: Blasmusik Pop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
Germán Kratochwil: Scherbengericht
Véronique Olmi: In diesem Sommer
Toine Heijmans: Irrfahrt
Thomas von Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen
Annette Pehnt: Chronik der Nähe
Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg
Olga Grjasnowa: „Der Russe ist einer, der Birken liebt
Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm
Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten
Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks
Thomas Wolfe: Die Party bei den Jacks
Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet
Jonathan Lethem: Chronic City
Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer
Doron Rabinovici: Andernorts
Ian McEwan: Solar
Marie N´Diaye: Drei starke Frauen
Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee
Richard Price: Cash
Colum McCann: Die große Welt
Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht
Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr

Alle Buchkritiken