S. Fischer Verlage, 2022, 416 Seiten
Darum geht es:
Das zentrale Thema dieses polyphonen, multiperspektivischen Science-Fiction-Collagenromans ist eine Erfindung namens „Own Your Unconcious“. Das ist eine Social Media-Plattform. Hier lässt sich das eigene Gedächtnis uploaden, um es mit einer Community zu teilen. Im Gegenzug erhält man Zugang zu allen Gedächtnisinhalten der übrigen User dieser Plattform.
Zwar steigt durch „Own your Unconcious“ die Aufklärungsquote diverser Straftaten einschließlich der Kinderpornographie. Es gibt aber keinerlei Privatsphäre mehr.
Um dieser totalen Öffentlichkeit zu entfliehen, setzen die Rebellen „Proxies“ ein. Sie selbst „verschwinden“ im Untergrund und lassen diese Strohpersonen für sich in den sozialen Medien oder in digitalen Konferenzen auftreten. Für diese Gemeinschaft der „Entflohenen“ etabliert sich ein „sicheres“ soziales Netzwerk namens „Mondrian“, das die Privatsphäre angeblich schützt.
Die Technologie hinter „Own your Unconcious“ wird auch zu Spionagezwecken genutzt, wie in dem Kapitel „Lulu the Spy“ - das an Egans Novelle „Black Box“ erinnert - ausführlich geschildert.
Eine Anthropologin verschwindet in die Welt der Entflohenen. Sie hatte mit ihrem Algorithmus menschlicher Interaktion einem Tech-Unternehmer erst zu der Erfindung „Own your Unconcious“ ungewollt verholfen.
Der Tech-Unternehmer versöhnt sich kurz vor seinem Tod mit den Betreibern des Entflohenen-Netzwerkes „Mondrian“. Er vererbt diesen einen großen Teil seines Vermögens; womöglich das Eingeständnis einer negativen Bilanz seines Lebenswerkes?
So klingt der Roman:
Einen einzigen Protagonisten gibt es in diesem Collagenroman, wie sie ihn selbst nennt, ebenso wie in dem Vorgängerroman „Der größere Teil der Welt“, nicht.
Jennifer Egan sagt über „Candy House“, es gebe nur drei Regeln:
Jedes Kapitel müsse
- aus einer anderen Perspektive geschrieben sein.
- in sich abgeschlossen und völlig eigenständig sein.
- sich lesen wie aus völlig unterschiedlichen Romanen.
Bewertung:
Unsere durchschnittliche Bewertung von 3,7 Punkten spiegelt eine Unzufriedenheit mit dem fehlenden „roten Faden“ wider. Eine stringente Handlung sucht man in „Candy House“ vergebens.
Viele bedauerten die verpassten Gelegenheiten zur Auserzählung der eher impressionistisch anmutenden Einzelplots. Die komplexe Konstruktion der vielen Verbindungen zwischen Figuren und Handlungselementen - zudem mit nicht-chronologischen Zeitsprüngen durchsetzt - war einigen „zu wirr“.
Ein wahrer Lesegenuss ohne Frustration und besseres Einordnen der Figuren stellt sich eher mit Kenntnis des Vorgängerromans „Der größere Teil der Welt“ ein. Dafür hatten es uns die virtuose Figurenzeichnung, die Ambivalenzen, der sprachliche Stil, die teils experimentelle Erzählform und der fehlende moralische Zeigefinger angetan.
Das Thema des Widerstreits von Freiheit und Sicherheit in Zeiten künstlicher Intelligenz scheint am Puls der Zeit und sprach uns sehr an.
(AK)