Dramatisch, poetisch, sprachgewaltig
Suhrkamp, 255 Seiten
Um 5.50 klingelt der Wecker von Simon Limbres. Es ist der letzte Tag seines Lebens, denn der 20 jährige Surfer wird sterben – und sein Tod anderen ermöglichen, weiter zu leben. Vorausgesetzt, die Eltern stimmen zu, der Arzt sucht die richtigen Empfänger aus, die Chirurgen geben ihr Bestes. Die Zeitspanne für eine erfolgreiche Organspende ist kurz bemessen.
24 entscheidende Stunden
Den Konsequenzen dieser Entscheidung verfolgt der Roman von Maylis de Kerangal aus den verschiedenen Perspektiven der involvierten Personen über einen Zeitraum von 24 Stunden. Eine Menschenkette, die die Autorin mit ihren Gefühlen und Gedanken, Stärken und Schwächen vorstellt. Zehn Menschen, für die dieser Unfall eine Katastrophe, das Ende einer Liebe, einen interessanten medizinischen Fall, eine Chance, ein großes Glück bedeutet. Dabei liefert sie kurze, schlaglichtartige Einblicke in das Leben der Erzähler wie etwa dem kauzigen Stationsarzt, dem singenden Organspende-Experten oder der auf den Moment der Spende hinlebenden Empfängerin. Gleichzeitig wird Maschinerie der Organspende präzise und nüchtern geschildert. Aus diesem Zusammenspiel von emotional aufrührenden Szenen und deskriptivem Reportagestil vor dem Hintergrund der immer knapper werdenden Zeit bezieht das Buch eine enorme Spannung.
Langgestreckte Sätze
Dazu kommt eine sehr kraftvolle Sprache, in der sie die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten beschreibt. In langen, mitunter über mehrere Seiten gehenden Sätzen spiegelt sie die Atemlosigkeit, die Hast der 24 Stunden für die erfolgreiche Transplantation wider. „Langgestreckte Sätze von konzentrierter Schönheit“ hat das die NZZ genannt. Gleichzeitig findet die Französin wunderbare Bilder in unmittelbarer Nähe des Todes. „Es gelingt ihr, dem Grauen eine poetische Stimmung zu entlocken“, schreibt der hr.
Zahlreiche Auszeichnungen
Tatsächlich hat die Autorin zahlreiche Preise erhalten. Schon 2010 stand ihr Buch „Die Brücke von Coca“ auf der Shortlist des renommierten Prix Goncourt. Auch „Die Lebenden reparieren“ hat in Frankreich nachhaltig begeistert. Dort gilt mittlerweile – anders als in Deutschland – für Organspenden die Widerspruchsregelung. Jeder Franzose, der nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat, ist Spender; Angehörig haben kein Widerspruchsrecht mehr.
Bewertung
Unsere Gruppe war mit wenigen Ausnahmen völlig begeistert von diesem sprachgewaltigen, spannenden, aktuellen und gleichzeitig sehr nachdenklichen stimmenden Roman. Dreimal wurde in allen Kategorien die Bestnote 5 vergeben (Stil, Aufbau Story, Thema, Spannung, gern gelesen) - das gab es in sechs Jahren Literaturclub noch nie.
Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die zu dem Buch gerade wegen der vielen Personen, der überbordenden Sprache und des atemlosen Stils keinen Zugang fanden. In Summe erzielte „Die Lebenden reparieren“ dennoch 4 von 5 Punkten und damit die beste Bewertung unseres Literaturclubs in 6 Jahren. (ut)