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Judith Herrmann - Wir hätten uns alles gesagt

Abb. © Verlag
Buchkritik

Stephan Thome: "Gott der Barbaren“

historisch, schwergewichtig, komplex
Suhrkamp, 2018, 719 Seiten


Die Geschichte:

Im China der 1860er Jahre trifft der britische Sonderbotschafter Lord Elgin auf eine fremde Welt, die er im Namen der britischen Krone für den Opiumhandel öffnen soll – ob der Kaiser von China nun will oder nicht. Die chinesische Regierung leistet passiven Widerstand, und so bereitet er den Militärschlag vor.


Zerrissen zwischen politischer Pflicht und ethischen Fragen verliert er sich in gedanklichen Nebenschauplätzen. Warum ist sein Attaché Maddox so ein furchtbarer Streber, und was geschah wirklich mit den gebundenen Füßen der Chinesinnen?


Auch der chinesische General Zeng Guofan tut, was er tun muss, um die parallel stattfindende, parachristliche Taiping-Revolution in China aufzuhalten, träumt aber indes vom ruhigen Gelehrtenleben. Seine konfuzianischen Tugenden gegenüber seiner Familie hat er schlecht erfüllt, und auch sein Protegé Li Hongzhang tanzt ihm auf der Nase herum, statt demütig Aufsätze über seine eigenen Schwächen zu verfassen.


Die Taiping-Revolutionäre wollen ganz Schluss machen mit Konfuzianismus, mit Ahnenverehrung, mit der Korruption im alten Beamtenstaat China. Sie wollen eine Bodenreform zugunsten der in Armut lebenden Massen durchsetzen. Ihre Ideen haben sich von denen der pietistischen Missionare, die sie mit dem Christentum bekannt gemacht haben, schon weit entfernt.


Inmitten des Bürgerkriegs zwischen kaiserlichen Truppen und Taiping-Revolutionären sucht Philipp Johann Neukamp, Missionar, Zweifler und Abenteurer, sein Glück.


Stil & Sprache:

In unkomplizierter Sprache lädt Thome den Leser ein, dem umso komplexeren Plot zu folgen. Er spart dabei nicht an inneren Monologen, Dialogen und Originaldokumenten wie etwa historischen Zeitungsartikeln und Parlamentsreden.


Plot & Dramaturgie:

Nicht chronologisch und in den oben genannten vier Plots entfaltet Thome seinen Roman. Berührungspunkte gibt es zwischen den Plots nur, was die Historie betrifft. Bis auf eine Ausnahme führt der Autor aber die handelnden Personen nicht zusammen. Missionar Philipp ist die einzige Figur, die kein echtes historisches Vorbild hat.


Bewertung:

Die durchschnittliche Bewertung von 3,8 repräsentiert nicht unser Qualitätsurteil: Nur wenige von uns lasen den ambitionierten Roman überhaupt zu Ende.


Schuld trugen Längen im Mittelteil, Zerfaserung des Plots in rein episodische Fäden und Handelnde, die uns nicht recht ans Herz wachsen wollten. So störten dann die brutalen Kriegsszenen nur diejenigen, die überhaupt bis zu ihnen vorzudringen vermochten. Die fühlten sich dafür aber mit enormem Wissen nicht nur über eine fremde Kultur, sondern auch über eine hierzulande kaum bekannte humanitäre Katastrophe bereichert.


Thome bedient sich am Fundus seines Stammberufs als Sinologe. Dem schwergewichtigen Sujet hätte es gut getan - gegen den literarischen Trend - keinen fiktionalen Helden hinzuzufügen. (ak)

 

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