Literatur am Abend: Montag, 13. Mai, 19.30 Uhr
Nele Pollatschek - Kleine Probleme

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Buchkritik Annette Mingels: "Der letzte Liebende“

Dieser einsame „alte weiße Mann“ weckt bei uns wenig Empathie
Penguin, 2023, 300 Seiten


Annette Mingels haben wir schon 2020 gelesen - damals gefielen uns besonders Stil und Sprache der Autorin. Das ist jetzt nicht anders.


Inhalt und Aufbau:
Annette Mingels gliedert ihren Roman in drei Teile.

Im ersten Teil lernen wir die Hauptfigur Carl Kruger kennen. Er lebt mit seiner todkranken Frau Helen getrennt auf zwei Etagen eines Apartments. Adoptivtochter Lisa besucht ihre Mutter täglich. Die Eheleute haben sich nichts mehr zu sagen; Helen stirbt ohne Versöhnung.


Im zweiten Teil machen sich Carl, der früh in den Westen und später in die USA emigrierte, gemeinsam mit Lisa und dem Enkel auf die Reise nach Ostdeutschland und Polen zu den Herkunftsländern der Familie.


Im dritten und letzten Teil des Buches geht es um Carl als Inspiration zu einer Hauptfigur in einem gerade erschienenen Roman, der von seinem ehemaligen Kollegen und Freund geschrieben wurde und dem Leser noch weitere Einblicke in Carls Leben und seine zahlreichen Affären eröffnet, viele davon auch mit Studentinnen in seiner Position als Universitätsprofessor.


Bewertung:
„Der letzte Liebende“ hat überwiegend gute Rezensionen erhalten.


Deutschlandfunk Kultur zum Beispiel erkennt an, wie Mingels hier Verlust, Heimatlosigkeit und Todesnähe umschreibt und dabei die Zeiten geschickt verschränkt.


Die shortlist war sehr gespalten in der Bewertung. Während eigentlich alle das Thema im Ansatz interessant fanden, konnten nur wenige sich mit dem unsympathischen, uneinsichtigen und egoistischen Protagonisten anfreunden. Daneben störte viele von uns der langatmige Plot. Daher wurde das Buch auch von den wenigsten gern gelesen.


Mit 3,2 Punkten von 5 möglichen insgesamt erreichte „Der letzte Liebende“ in Summe eine durchschnittliche Bewertung. Lediglich für Annette Mingels Stil und Sprache gab es durchweg hohe Noten.

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Buchkritik Tijan Sila: "Radio Sarajevo“

Vom Aufwachsen im Krieg
Hanser Verlag, 2023, 176 Seiten


Darum geht es:


Der Roman beschreibt die Erlebnisse des zehnjährigen Tijan während des Bosnien-Krieges. Von den Nächten im Keller beim Bombenalarm bis zu seinen Streifzügen durch die zerstörte Stadt, um Dinge für den Schwarzmarkt zu finden, zeigt Sila einen eindringlichen Blick auf den Alltag im Krieg. Der Verlust und die Wiedererlangung seines kleinen roten Radios symbolisieren die Hoffnung inmitten der Dunkelheit.


Über den Autor:

Tijan Sila wurde 1981 in Sarajevo geboren und erlebte als Kind den Bosnien-Krieg. 1994 floh er nach Deutschland und wuchs in Landau in der Pfalz auf. Heute lebt er in Kaiserslautern und arbeitet an einer Berufsschule. Unter seinem Pseudonym, das im Bosnischen "Kraft" oder "Macht" bedeutet, hat er bereits vier Romane veröffentlicht.



So klingt der Roman:
"Radio Sarajevo" zeichnet sich durch seinen mitfühlenden und authentischen Stil aus. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas schafft es Sila, Humor in die Erzählung einzuflechten und dem Leser einen Einblick in den Alltag im Krieg zu geben.


Bewertung:

Die Gesamtbewertung des Buches liegt bei 4,0, was auf eine überwiegend positive Resonanz unserer Mitglieder hindeutet. Insbesondere die hohe Punktzahl für das Interesse am Thema (4,8 von 5) zeigt, dass "Radio Sarajevo" viele Leser anspricht.


Lob erhielten vor allem die stark gezeichneten Charaktere, während Kritikpunkte hauptsächlich die Sprache und Dramaturgie betrafen. Trotzdem bleibt das Buch eine fesselnde und wichtige Erzählung über die menschlichen Erfahrungen im Krieg.

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Buchkritik Mohamed Mbougar Sarr: "Die geheimste Erinnerung der Menschen“

Spannende Suche nach einem verschollenen Autor
Carl Hanser Verlag, 2022, 448 Seiten


Darum geht es:


Der Roman erzählt von der Suche nach dem mysteriös verschollenen senegalesischen Autor Elimane, der in den 30er Jahren gefeiert wurde, jedoch nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal untertauchte.


Auf diese Suche begibt sich der ebenfalls aus dem Senegal stammende und in Paris lebende Autor Diégane. Er bekommt das verloren geglaubte Werk von Elimane in die Hände und wird sofort hineingezogen.


Wir begleiten Diégane auf seinem Weg über verschiedene Kontinente und zu vielen verschiedenen involvierten Personen.


Angelehnt ist die Erzählung des Romans an ein reales Vorbild: Das Buch „Gebot der Gewalt“ des malischen Autor Yambo Ouloguem (1940-2017) führte in der damaligen Zeit aufgrund von Plagiatsbeschuldigungen zu heftigen Kontroversen im literarischen Paris.


Über den Autor:

Der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr ist 1990 in Dakar geboren und studierte Literatur und Philosophie in Frankreich. 2014 erschien sein erstes Werk, auf das drei weitere Romane folgten. „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ wurde 2021 mit dem französischen Buchpreis „Prix Goncourt“ ausgezeichnet. Sarr ist der erste senegalesischer Autor, der diesen Preis erhielt.


So klingt der Roman:
Durch die Suche nach dem verschollenen Autor bleibt der Roman bis zum Schluss handlungsgetrieben und spannend, auch wenn Verästelungen und Nebenhandlungen immer wieder eingeschoben werden.


Der vielschichtige Aufbau zeigt sich auch in den verschiedenen Textsorten, die der Roman enthält: neben Erzählungen, Tagebucheinträgen und Briefen, werden beispielsweise Zeitungsartikel und Interviews gezeigt.


Themen wie Kolonialismus, Politik und Identität werden immer wieder verhandelt. Zeitweise liest sich der Roman wie eine Satire auf den französischen Literaturbetrieb.


Bewertung:

Unsere Bewertung von 3,2 von 5 Punkten zeigt, dass der Roman uns nicht in der Mehrheit überzeugen konnte. Einige von uns schätzten den abwechslungsreichen und komplexen Stil sehr. Für viele wirkte der Roman sehr überladen und mit manchen Erzählsträngen zu verästelt. Es war dadurch nicht immer ganz einfach, dranzubleiben und nicht alle von uns hatten Lust, den Roman zu Ende zu lesen.


Auch die Meinungen zur Sprache gingen auseinander: manche lobten den „poetischen“, „märchenhaften“ oder auch „humorvollen“ Stil. Andere kritisierten die verschachtelten Sätze oder die Sprache als zu „ausschweifend“ und „altmodisch“.


Die in dem Buch verhandelten Themen in der Mehrheit stießen insgesamt bei uns auf Interesse, auch wenn wir uns schließlich einig waren, dass das Buch seine Längen hat.

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Buchkritik Juli Zeh Simon Urban: "Zwischen Welten“

Luchterhand, 2023, 448 Seiten


Darum geht es:
Milchbäuerin Theresa hat den Hof ihres Vaters übernommen, eine ehemalige LPG in Brandenburg. Stefan ist Journalist beim „Boten“. Beide lebten im Germanistikstudium in einer WG in enger häuslicher und freundschaftlicher Gemeinschaft. Als Mittvierziger hat beide eine neue Realität eingeholt. Als sie sich zufällig treffen, erkennen sie sich kaum wieder: Stefan biedert sich bis zur Unkenntlichkeit bei jungen, woken KollegInnen an, während Theresa sich fern jeder früheren Intellektualität auf Ihrem Hof abrackert, um ihren Kleinbetrieb über Wasser zu halten. So endet das erste Wiedertreffen nach Langem in einem Eklat. Doch dann nehmen beide einen Dialog über Whatsapp wieder auf. Sie versuchen, sich nicht nur ihre gegenseitigen Lebenswelten nahezubringen, sondern auch, politische Überzeugungsarbeit des jeweils anderen zu leisten. Die Ereignisse und damit die Geschichte nehmen zusehends an Fahrt auf.


So klingt der Roman:
Die moderne Version eines Briefromans bildet in ihrer Form ein hochaktuelles gesellschaftliches Problem ab: Die Unfähigkeit zum echten Dialog zwischen einstig verbundenen Bürgern, die durch soziale Polarisierung immer weiter auseinanderdriften. Denn trotz intensiver elektronischer Kommunikation gehen die beiden Freunde nur in seltenen Momenten wirklich aufeinander ein, sondern versinnbildlichen nur verschiedene Gefälle der heutigen deutschen Gesellschaft: woke – bürgerlich, intellektuell – physisch, reale Demonstration – virtueller Shitstorm, urbaner Langzeitsingle – ländliche Familie.


So manches Mal leidet die Glaubhaftigkeit, nicht die der erzählten Geschehnisse, sondern die der Stunden andauernden und zu jeder Tages- und Nachtzeit stattfindenden elektronischen Kommunikation. Das Gesamtexperiment eines Briefromans, der tatsächlich von zwei Autoren verfasst ist, gelingt jedoch aufgrund der Relevanz und Aktualität der verhandelten Themen.


Besonders lebhaft diskutierten wir die Frage, für welches Publikum Juli Zeh und Simon Urban schreiben, ob der Roman Ost- und Westdeutsche gleichermaßen anspricht, und wer sich in den polarisierten Ansichten ganz oder zu Teilen wiederfindet. Wir fanden eine zunehmende gesellschaftliche Diskursunfähigkeit in den (Pseudo-)dialogen der Hauptfiguren sehr treffend zugespitzt.


Bewertung:
Die durchschnittliche Gesamtnote von 3,4 zeigt, dass die etwas flachen, hölzernen Figuren dem Leseerlebnis keinen Abbruch taten. Zwar störten sich die meisten von uns an den unrealistischen oder überzeichneten Figuren, bewerteten den Roman aber als spannend. Die als sehr interessant empfundenen, wenn auch zahlreichen, zeitaktuellen Themen trugen dazu bei, dass „Zwischen Welten“ gerne gelesen wurde.

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Buchkritik Johan Theorin: "Nebelsturm“

No thrill at all von einem talentbefreiten Autor.
Piper Nordiska, 447 Seiten, 2009


Die Story: schlicht.
Eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern zieht an die schwedische Küste. Ihr Haus wurde der Sage nach aus der Holzladung eines 1846 gekenterten Schiffes erbaut. Bereits am Beginn der Handlung ertrinkt die junge Ehefrau. Der verwitwete Ehemann hat neben der Trauer um seine Frau auch den Verlust seiner Schwester zu verarbeiten, die ein Jahr zuvor ebenfalls unter ominösen Umständen starb.


Die Erzählung: mit parallelen Erzählsträngen und Mystik überladen und auf x Seiten ausgedehnt.
Flankierend zur Haupthandlung flicht Theorin eine Legende um das alte Haus, die daneben stehenden Zwillingsleuchttürme und die Schicksale ehemaligen Bewohnen dieses Anwesens. Dazu kommen weitere Handlungsstränge, die sich um das Liebesleben der ermittelnden Polizistin drehen, um ein trotteliges Einbrechertrio, das übersinnlichen Rat für seine Einbrüche holt und um persönliche Erinnerungen früherer Hausbewohner.


Der Stil: talentbefreit.
Blutleere Charaktere, Emotionen und Handlungen sind wenig glaubhaft, die kriminalistischen Motive wirken durchgehend schwach und irrelevant.


Bewertung: Nie wieder Theorin.
Warum Autor und Buch - genau wie etwa Stieg Larsson für Verblendung (2005) - den schwedischen Krimipreis erhalten haben? Wir wissen es nicht.
Würden wir diesen Buch empfehlen bzw. weitere Bücher dieses Autors lesen? Einstimmiges Votum! -No Way!

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Buchkritik Milena Michiko Flasar: "Herr Kato spielt Familie“

Pappa ante portas in Japan

Wagenbach, 176 Seiten


Die Geschichte:
Der namenlose Protagonist ist als frischgebackener Rentner zu Hause mehr als überflüssig. Seine ihm entfremdete Frau kann es ihm nicht recht machen, und schickt ihn – ob nun als Retourkutsche oder nicht – gerne auf ziellose Spaziergänge. Ausgerechnet auf dem Friedhof trifft er eine mysteriöse Frau schwer bestimmbaren Alters, die ihn als Schauspieler für Stand-In-Situationen rekrutiert. In den drei nun folgenden Stand-In-Aufträgen hat der Rentner wie durch Zufall drei Rollen inne, die er selbst bisher knapp verpasst hat: Opa, Bald-Ex-Ehemann und Chef. Das färbt auch auf sein bisheriges Leben ab – und scheint doch zu spät.


Stil und Sprache:
Eine klare, schlichte und schöne Sprache ist das Markenzeichen der österreichisch-japanischen Autorin, die den „diskreten“ Stream of conciousness erfindet – das perfekte Kolorit für den ebenso diskreten, ja, farblosen Helden, dessen Fragen und Unsicherheiten Flasar gekonnt auszumalen weiß.


Plot & Dramaturgie:
Mit der personalen Erzählperspektive und einer chronologischen Ereignisabfolge mit nur einem Zeitsprung nach vorne, ganz am Ende, bleibt Flasar dramaturgisch schlicht, aber auch in altbewährter Tradition. Durchaus spannend gestalten sich die auf den Helden einwirkenden Ereignisse, auch wenn der Leser sich des Eindrucks einer gewissen Pädagogik seitens der Autorin nicht erwehren kann. Dies sei als ein wesentlicher Kritikpunkt der Feuilletons auch früherer Werke Flasars erwähnt. Leider bleibt der Ausgang der Handlung damit eher vorhersehbar.


Bewertung:
In unserer Gruppe erhielt das Buch überwiegend gute Bewertungen. Insbesondere das Thema schnitt bei allen gut ab. Dennoch war es ein Buch, das nur von wenigen richtig gern gelesen wurde. Das hatte auch viel mit der schlichten Dramaturgie zu tun. In Summe liegt dieser kurze Roman mit 3,5 von 5 möglichen Punkten deutlich über dem Schnitt der sonst von uns gelesenen Bücher.

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Buchkritik András Forgách: "Akte geschlossen“

Sperriger und doch berührender Roman über die Stasi-Vergangenheit der Mutter


S. Fischer Verlag, 2019, 352 Seiten


András Forgách ist Schriftsteller, Schauspieler, Übersetzer und Theaterautor. Nachdem er bereits 2007 seine Familiengeschichte veröffentlicht hat, verarbeitet er in dem 2015 erschienenen Roman „Akte geschlossen“ einen bisher unbekannten Teil des Lebens seiner verstorbenen Eltern. Der Roman wurde in Ungarn als Sensation gefeiert, er wurde in 14 Sprachen übersetzt und bereits die Filmrechte verkauft.


Handlung: Durch den Hinweis eines Bekannten entdeckt Forgách, dass zuerst sein Vater und nach dessen psychischer Erkrankung auch seine Mutter als Spitzel für die ungarische Staatssicherheit gearbeitet haben. Während ihn die Tätigkeit des Vaters nicht überrascht, ist die Entdeckung, dass seine Mutter, die er als schöne und unkonventionelle Frau geliebt hat, sogar ihre Kinder ausspioniert hat, für ihn ein „Ereignis kosmischen Ausmaßes“.


Er versucht, Verständnis für die Mutter zu entwickeln, die als Tochter von Holocaustüberlebenden und überzeugte Kommunistin nirgends richtig dazuzugehören schien. Gleichzeitig fast skurril wirkt die unglaubliche Piefigkeit und Banalität der Stasi-Berichte, die die Verbindungsoffiziere der Mutter verfassen und aus denen sich erkennen lässt, dass die Mutter keine wirklichen Nachrichten in Erfahrung bringen konnte.


Stil und Sprache: Der Roman ist in drei Teile gegliedert, Auszüge aus den Geheimdienstakten, eine lyrisch-poetische Aufarbeitung und eine Beurteilung durch den Autor.


Bewertung: Gerade diese Dreiteilung hat es für uns schwer gemacht, den Roman durchgängig zu lesen. Insbesondere der zweite Teil wurde von den meisten nur überblättert. Trotzdem hat die Thematik uns sehr berührt, die Collagetechnik des ersten Teils wurde sehr positiv aufgenommen. Zu kurz gekommen ist nach einhelliger Meinung jedoch die Darstellung, was die Entdeckung der Geheimdiensttätigkeit im Autor auslöst. Wir vergeben 3,35 von 5 Punkten.

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Buchkritik Haruki Murakami: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“

Ruhig, nachrichtlich, einfach zu lesen
DuMont Verlag, 2014, 350 Seiten


Inhalt:
Das Buch handelt von Tsukuru Tazaki, der in seiner Jugend plötzlich und scheinbar ohne Grund von seinen besten Freunden verstoßen wurde. Dieses Ereignis hätte ihn beinahe in den Selbstmord getrieben. Jetzt, inzwischen Mitte dreißig, versucht er auf Drängen seiner Freundin herausfinden, was damals geschah.


Stil und Sprache: Das ist als Plot durchaus spannend, auch für Europäer. Dennoch springt der Funke nicht bei allen von uns über. Das hat viel mit der sehr einfachen, nachrichtlichen und emotionslosen Sprache von Murakami zu tun. Sie macht die Lektüre zwar auf der einen Seite sehr einfach.


Bewertung: Anders als in seinen bisherigen Büchern stört der schlichte Stil aber auch immer wieder das Lesevergnügen, wirkt oft Roboterhaft. Das fällt vor allem in den Dialogen auf. „Singapur ist ein angenehmes Reiseland. Die Landesküche ist sehr gut, und es gibt wunderschöne Ferien-Resorts“ Auch über Sex zu schreiben zählt nicht zu Murakamis Stärken: ..“ Doch als er kurze Zeit später in sie eindringen wollte, fehlte ihm die Festigkeit“… Selbst Murakamis Exkurs in den magischen Realismus fasziniert in diesem Buch nicht.


Die Literaturkritik teilst sich bei diesem Buch in zwei Fraktionen: Die einen sehen in dem 64jährigen Autoren Haruki Murakmi mehr denn je einen Kandidaten für den Literaturnobelpreis und schätzen auch an diesem Werk seine Kunst, lakonisch und ruhig zu erzählen. Der andere Teil ist erneut fassungslos ob des Phänomens Murakami, dessen „banale“ Romane samt „unbeholfener Sprache“ in den Augen des Rezensenten in die Sparte „seichter Unterhaltung“ gehören.


Fest steht für uns: Seine früheren Romane waren sprachlich und inhaltlich besser und faszinierender. Das aktuelle Buch erreicht in Summe 3,3 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Jens Steiner: "Carambole“

Dorftristesse in 12 Runden
Dörlemann Verlag, 2013, 288 Seiten


Inhalt:
Carambole erzählt in zwölf Kapiteln über das Leben in einem fiktiven Schweizer Dorf. Da gibt es die drei Schüler, Manu, Fred und Igor, die in der Hitze des Sommers gelangweilt auf die in zwei Wochen beginnenden Sommerferien warten. Renate, die in Fred verliebt ist. Renates Eltern, die sprachlos nebeneinander leben. Den erfolglosen Gärtner, dem seine Frau wegläuft. Den ehemaligen Knecht Heinz. Den Frühpensionierten, der sich jeden Tag tiefer in die Erde gräbt. Schorsch, den Dorfstreicher. Und die drei älteren Herren, die „Troika“ die sich regelmäßig treffen und Carambole spielen, ein Brettspiel aus Indien.


Plot & Damaturgie:
Anspiel, Zugzwang, Pause, Patt, Aus: Jens Steiner hat die 12 Kapitel seines Buches nach den Etappen eines Spieles benannt. Tatsächlich scheinen die ersten Erzählungen von Carambole beiläufig aneinandergereiht. Doch mit weiterem Fortschreiten des Buches zeigen sich Querbezüge und Zusammenhänge, erfährt der Leser in jedem Kapital mehr über die tragischen und traurigen Schicksale dieser in sich verstrickten und gefangenen Dorfgemeinschaft.


Sprache & Stil:
Gekonnt wechselt Steiner bei jedem Kapital die Erzählperspektive, lässt die Dorfbewohner in der Ich- oder auch Er-Perspektive ihre Biografien, Ausschnitte aus ihrem Leben und dem der anderen Dorfbewohner erzählen. So liest man etwa mit leisem Grauen von dem im Rollstuhl sitzenden namenlosen Beobachter, der das ganze Dorf von seinen Balkon aus mit Fernrohren observiert. Er hat einst einen Unfall verursacht, bei dem die Eltern einer Familie aus dem Dorf ums Leben kamen. Auch die beiden Kinder, zwei Brüder, leben noch im Dorf.


Bewertung:
Nach dem Erfolg von „Hasenleben“ 2011 ist Carambole bereits der zweite Roman von Jens Steiner, das es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat (2013). In der Schweiz konnte Carambole den Buchpreis gewinnen. Auch wir waren uns einig: Dieser Autor beobachtet genau und kann mit Sprache umgehen, schafft mit dem Wechsel aus Nähe und Distanz erzählerische Spannung und wechselt gekonnt zwischen Gegenwart und Vergangenheit.


Dennoch würden Carambole nur wenige von uns weiterempfehlen. Das liegt vor allem an der Tristesse, die dieses Buch und jede einzelne Geschichte durchzieht. Enttäuschte Erwartungen, Langeweile, Gefangensein in einem sozialen Gefüge – Jens Steiner beschreibt dieses Ausgeliefertsein aus allen Perspektiven. Für die einen perfekt, für die anderen zu langsam erzählt und schwer zu ertragen.


Das spiegelt sich in unserer Bewertung wieder: Carambole bekommt wenig gute und viele schlechte Bewertungen und landet am Schluss bei 2,6 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Lily Brett: "Lola Bensky“

Turbulent, komisch, schön erzählt
Suhrkamp 2013, 302 Seiten


Die Autorin: Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Lily Brett schreibt für ein Musikmagazin und lernt die wichtigsten Musiker und Rockstars der 60iger Jahre kennen. "Wenn Du Auschwitz überlebt hast, hast Du keine Ehrfurcht mehr vor diesen Größen", sagt Lily Brett: "Aber du verstehst, warum das Lachen im Leben wichtig ist."


Der Roman: Der Leser begleitet Lola Bensky im Jahr 1967 in London, dann auch in Amerika bei Interviews mit den Newcomern der Musikszene, die heute weltberühmt sind, und merkt schnell, dass Lola eine gestörte Beziehung zu ihrem Körper hat und unsinnige Diäten entwirft. Lola ist dick, aber sie fühlt sich fett. Und sie fühlt sich schuldig und verantwortlich für das Unglück, das ihren Eltern widerfahren ist.


Lola Bensky wurde in einem Lager für Displaced Persons geboren. Ihre Eltern waren Überlebende eines Konzentrationslagers, wanderten aus und entscheiden sich, mit ihrer Tochter Englisch zu sprechen.


Dies sollte zwar der Integration in die neue Heimat dienen. Doch der Leser ahnt auch, dass die mangelnde Ausdrucksfähigkeit in der Fremdsprache auch ein Bild für die begrenzte Möglichkeit ist, die grauenhaften Lagererfahrungen zu bewältigen.


Mit Lola begibt sich der Leser auf eine Reise in die turbulente Musikszene und in den Sog des Buches. Lola begegnet u.a. Jimi Hendrix, Cat Stevens, Twiggy, Brian Jones, Mama Cass, Janis Joplin.


Nach diesen verschlungenen Wegen begegnet Lola, inzwischen 63 Jahre alt und jetzt glücklich verheiratet, in New York erneut Mick Jagger, tauscht einen Blickkontakt und ein Lächeln mit ihm.


Stil und Sprache: In ihrer Überraschung, dass Mick Jagger schon mal etwas von Ausschwitz gehört hat, schildert Lola ihre Erfahrungen als Kind von Ausschwitzüberlebenden. Diese sehr persönlich geratenden Interviews mit den Musikikonen, gemischt mit dem frischen, unkomplizierten Erzählstil scheinen der Bann zu sein, der dem Leser das eigentlich schwere Thema des Buches bekömmlich macht.


Eingestreut in die Szenen des Jahres 1967 sind solche aus späteren Zeiten: Lolas vorübergehende Rückkehr nach Ausstralien, ihre Ehe, deren Trennung, Jahre mit Angststörung und Therapie, in deren Folge statt der Diäten sich ihre Romanfiguren Harry, Schlomo und Petrushka Inge Maria Pagenstecker aus dem „ultraprivaten Detektivbüro“ in ihren Gedanken tummeln.


Der Leser weiß beim Zurseitelegen des Buches, dass ein Leben auch mit schwieriger Biographie in Zufriedenheit und Freude gelingen kann.

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Buchkritik Ned Beauman: "Der gemeine Lumpfisch“

Kreativer, mitreißender und tragischer Ökothriller zum Artensterben
Liebeskind 2023, 380 Seiten


Der Autor:
Ned Beauman ist ein britischer Schriftsteller und Drehbuch-Autor. Er studierte Philosophie und schrieb als Redakteur für verschiedene Magazine. 2010 veröffentlicht er seinen ersten Roman. Seine Werke werden für verschiedene Awards nominiert und ausgezeichnet. Auch auf der Granta-Liste der „Best of Young British Novelists“ findet er einen Platz. „Venomous Lumpsucker“, so der Originaltitel, ist sein fünfter Roman.


Die Handlung:
Der in der nahen Zukunft spielende Roman „Der gemeine Lumpfisch“ setzt sich mit vielen Krisen unserer Gegenwart - allen voran dem Artensterben - kreativ, tragisch und komisch auseinander.


Als ungleiches Paar verfolgen wir die Protagonisten Mark Halyard und Karin Resaint, die auf der Suche nach dem für ausgestorben gehaltenen gemeinen Lumpfisch sind. Mark arbeitet für eine Firma, die Tiefseebergbau betreibt, als sogenannter Umweltverträglichkeitskoordinator. Die Firma muss, weil sie das Aussterben einer Art mitverantwortet, bei einer Weltorganisation teure Auslöschungszertifikate erwerben.


Mark hintergeht seinen Arbeitgeber und verspekuliert sich mit den Zertifkaten. Um den Gefängnis zu entgehen, muss er ein echtes Exemplar des Lumpfisches in freier Wildbahn ausfindig machen. Dazu benötigt er die Lumpfisch-Expertin Karin Resaint, die zunehmend unter dem Artensterben leidet.


Beide zusammen machen sich auf eine Abenteuerreise durch das inzwischen deutlich wärmere Finnland, Estland und über die Ostsee.


So klingt der Roman:
Mit einem hohen Maß an Detailverliebtheit und Humor gewährt dieser mitreißend geschriebene Roman einen Ausblick in eine künftige Welt, wie wir sie in wenigen Jahren schon erleben werden.


Der Autor zeichnet sich aus durch viel Recherche. Autonom fahrende Taxis und Boote, fehl geschlagenes Geo-Engineering gegen die Klima-Erwärmung, ein deutlich wärmeres Finnland und Estland, Brexit und AfD, Finanzinvestoren, Finanzspekulation und Lobbyisten, Zertifikate-Handel als "marktwirtschaftliches Instrument" zur Lösung der Klima-Krise, Meeres-Wohnplattformen für die Reichen ohne Steuern und Regeln, Genom-Bastler und Startups, ein immer gleich schmeckendes Essen und natürlich künstliche Intelligenz - das alles kommt vor.


Zugleich versucht er, so sagt er in einem Interview, seine Geschichten mit dem Tempo eines amerikanischen Films zu erzählen. Das schafft er mit knackigen Dialogen, gut beschriebenen Szenen, etlichen Cliffhangern und Humor.


Unsere Bewertung:
Für die meisten von uns war dieser Roman ein Schritt aus der Lesekomfortzone. Dennoch haben uns das Thema Artensterben, oder besser gesagt die vielen Facetten der Themen, die Beauman in seinem Roman behandelt, tief in Entwicklungen eintauchen lassen, die wir demnächst erleben werden.


Das Tempo und die Spannung fanden wir in jedem Fall positiv. Das sehr detaillierte Erzählen des Schriftstellers ist interessant, wurde von einigen aber auch als zu ausführlich empfunden. Fest steht: „Der gemeine Lumpfisch“ erfordert Aufmerksamkeit und lässt sich nicht mal eben nebenbei lesen. Dafür belohnt er den Leser mit einem sehr humorvollen Stil und schrägen Nebencharakteren.


Zu vielen der Themen hatten wir in unserer Runde einen regen Austausch, vieles stimmte auch nachdenklich. Mit 3,8 Punkten von 5 möglichen Punkten erzielte der sehr aktuelle Roman eine weit überdurchschnittliche Gesamtwertung.

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Buchkritik Jakob Guanzon: "Überfluss“

Elster Verlag 2023, 380 Seiten


Ein starker Roman, der Fehler im System aufzeigt, wenn es darum geht, dem Armutsstrudel zu entrinnen, und zeigt, wie wichtig letztendlich die Kaufkraft ist.

Handlung:
Es ist Juniors 8. Geburtstag. Henry, sein Vater, der bereits seit einem halben Jahr mit seinem Sohn obdachlos ist und auf der Ladefläche seines Pick-ups lebt, hegt den verzweifelten Wunsch, seinem Sohn an diesem besonderen Tag eine unvergessliche Erfahrung zu schenken. Trotz seiner finanziellen Nöte beschließt er, sein letztes Erspartes für einen Besuch bei McDonald's, ein Geschenk und eine Übernachtung in einem Motel zu verwenden.


Die letzten Jahre hatte Henry im Gefängnis verbracht und steht nun vor einer ungewissen Zukunft, geprägt von der Suche nach einem Arbeitsplatz. Ein kleiner Hoffnungsschimmer bietet sich in Form eines Jobinterviews, das am Tag nach Juniors Geburtstag ansteht. Während wir Henry in den nächsten 24 Stunden begleiten, werden immer wieder Rückblicke eingestreut, die die Ursprünge seiner gegenwärtigen Lebenssituation beleuchten.


In einer Welt voller kleiner Fehlentscheidungen, die es dem Protagonisten unmöglich machen, aus dem Strudel der Armut auszubrechen, werden Fehler im System schonungslos offengelegt.
 

Über den Autor:
Jakob Guanzon, 1988 in New York geboren und in Minnesota aufgewachsen, hat zunächst Soziologie studiert, anschließend einen Master in Fine Arts an der Columbia absolviert und kehrte schließlich als Autor in seine Heimatstadt New York zurück. "Überfluss" markiert sein beeindruckendes Debüt, für das er sowohl für den National Book Award for Fiction als auch für den Aspen Words Literary Prize nominiert wurde.


So klingt der Roman:
Guanzons Roman überzeugt durch sehr stark gezeichnete Figuren, die es dem Leser ermöglichen, sich vollständig mit den Hauptfiguren zu identifizieren. Dabei bleibt man selbst in den Momenten, in denen man die Entscheidungen und Handlungen der Figuren in Frage stellt, durchweg emotional involviert. Es scheint, als wäre ein Ausbruch aus diesem System der Verzweiflung und die Möglichkeit eines Neuanfangs schier unmöglich.


Besonders an „Überfluss“ ist unter anderem, dass am Anfang jedes Abschnittes der Geldbetrag als Kapitelüberschrift genannt wird, der Henry zur Verfügung steht. Dies unterstreicht eindrucksvoll die Bedeutung des Geldes im Abschnitt dieser Erzählung.


Eine der Höhepunkte des Romans ist zweifellos die Szene im Supermarkt, in der der Titel "Überfluss" seine tiefere Bedeutung enthüllt.


Bewertung:
Mit einer durchschnittlichen Bewertung von 4,0 bewerten wir Guanzons Debütroman überaus positiv. Besonders beeindruckend ist, dass das Thema in der Beurteilung durchweg als fesselnd empfunden wurde. Die Charaktere erzeugen eine starke emotionale Bindung, und der Leser lebt, leidet und empfindet tiefes Mitgefühl für Junior und die anderen Figuren.


Als Verbesserung fiel uns auf, dass man mehr aus den Überschriften hätte machen können. Mit einer tieferen Einbindung in Handlung hätte man unserer Meinung noch eine tiefere Verknüpfung herstellen könnten.


Insgesamt können wir "Überfluss" mit diesen sehr positiven Bewertungen definitiv weiterempfehlen.

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Buchkritik Jennifer Egan: "Candy Haus“

S. Fischer Verlage, 2022, 416 Seiten


Darum geht es:
Das zentrale Thema dieses polyphonen, multiperspektivischen Science-Fiction-Collagenromans ist eine Erfindung namens „Own Your Unconcious“. Das ist eine Social Media-Plattform. Hier lässt sich das eigene Gedächtnis uploaden, um es mit einer Community zu teilen. Im Gegenzug erhält man Zugang zu allen Gedächtnisinhalten der übrigen User dieser Plattform.


Zwar steigt durch „Own your Unconcious“ die Aufklärungsquote diverser Straftaten einschließlich der Kinderpornographie. Es gibt aber keinerlei Privatsphäre mehr.


Um dieser totalen Öffentlichkeit zu entfliehen, setzen die Rebellen „Proxies“ ein. Sie selbst „verschwinden“ im Untergrund und lassen diese Strohpersonen für sich in den sozialen Medien oder in digitalen Konferenzen auftreten. Für diese Gemeinschaft der „Entflohenen“ etabliert sich ein „sicheres“ soziales Netzwerk namens „Mondrian“, das die Privatsphäre angeblich schützt.


Die Technologie hinter „Own your Unconcious“ wird auch zu Spionagezwecken genutzt, wie in dem Kapitel „Lulu the Spy“ - das an Egans Novelle „Black Box“ erinnert - ausführlich geschildert.


Eine Anthropologin verschwindet in die Welt der Entflohenen. Sie hatte mit ihrem Algorithmus menschlicher Interaktion einem Tech-Unternehmer erst zu der Erfindung „Own your Unconcious“ ungewollt verholfen.


Der Tech-Unternehmer versöhnt sich kurz vor seinem Tod mit den Betreibern des Entflohenen-Netzwerkes „Mondrian“. Er vererbt diesen einen großen Teil seines Vermögens; womöglich das Eingeständnis einer negativen Bilanz seines Lebenswerkes?


So klingt der Roman:
Einen einzigen Protagonisten gibt es in diesem Collagenroman, wie sie ihn selbst nennt, ebenso wie in dem Vorgängerroman „Der größere Teil der Welt“, nicht.


Jennifer Egan sagt über „Candy House“, es gebe nur drei Regeln:

Jedes Kapitel müsse
  1. aus einer anderen Perspektive geschrieben sein.
  2. in sich abgeschlossen und völlig eigenständig sein.
  3. sich lesen wie aus völlig unterschiedlichen Romanen.

Bewertung:
Unsere durchschnittliche Bewertung von 3,7 Punkten spiegelt eine Unzufriedenheit mit dem fehlenden „roten Faden“ wider. Eine stringente Handlung sucht man in „Candy House“ vergebens.


Viele bedauerten die verpassten Gelegenheiten zur Auserzählung der eher impressionistisch anmutenden Einzelplots. Die komplexe Konstruktion der vielen Verbindungen zwischen Figuren und Handlungselementen - zudem mit nicht-chronologischen Zeitsprüngen durchsetzt - war einigen „zu wirr“.


Ein wahrer Lesegenuss ohne Frustration und besseres Einordnen der Figuren stellt sich eher mit Kenntnis des Vorgängerromans „Der größere Teil der Welt“ ein. Dafür hatten es uns die virtuose Figurenzeichnung, die Ambivalenzen, der sprachliche Stil, die teils experimentelle Erzählform und der fehlende moralische Zeigefinger angetan.


Das Thema des Widerstreits von Freiheit und Sicherheit in Zeiten künstlicher Intelligenz scheint am Puls der Zeit und sprach uns sehr an.

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Buchkritik Fatman Aydemir: "Dschinns“

Packender authentischer Familienroman
Carl Hanser Verlag 2022, 368 Seiten


Handlung:
Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" entführt die Leserschaft in eine fesselnde Familiengeschichte, in der die Charaktere mit großer Tiefe gezeichnet sind.


Der Roman erzählt die Geschichte von Hüseyin, der nach 30 Jahren Arbeit in einer Metallfabrik in Süddeutschland und mühsamen Sparens für eine Wohnung in Istanbul einen tödlichen Herzinfarkt erleidet, ausgerechnet am Tag, als sich sein Traum erfüllte.


In den folgenden Kapiteln begleiten wir die Familie auf ihrem Weg nach Istanbul zur Beerdigung Hüseyin. Dabei lernen wir seine Frau und jedes seiner vier Kinder besser kennen. Jedem Protagonisten ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Mit jedem Kapitel werden ihre Wünsche, Probleme und Geheimnisse enthüllt. Die Autorin behandelt dabei aktuelle gesellschaftskritische Themen wie Rassismus, Migration und Vorbehalte gegenüber Mitgliedern der LGBTQI+ Community.


Über die Autorin:
Fatma Bahar Aydemir ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie lebt in Karlsruhe. Nach ihrem Studium der Amerikanistik und Germanistik arbeitet sie heute bei der Tageszeitung taz und schreibt dort über Literatur, Popkultur und die Türkei. Bereits ihr Debütroman "Ellbogen" wurde unter anderem mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis ausgezeichnet. "Dschinns" schaffte es zudem 2022 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.


So klingt der Roman:
Der Klang des Romans besticht durch seine vielseitigen, authentischen Erzählperspektiven und eine fesselnde Dramaturgie. Besonders der geheimnisvolle Ich-Erzähler zu Beginn des Werkes erzeugt eine mystische Stimmung, die die gesamte Erzählung einzigartig und packend macht.


Bewertung:
Es ist erwähnenswert, dass alle Leserinnen und Leser den Roman mit der Höchstnote als "gern gelesen" bewerteten, was für uns ein außergewöhnliches Leseerlebnis darstellt. Daher können wir "Dschinns" uneingeschränkt weiterempfehlen.


Insgesamt erhält "Dschinns" eine äußerst positive Bewertung mit einer Gesamtnote von 4,4 von 5 möglichen Punkten. Stil und Sprache des Romans haben uns besonders gefallen, ebenso wie die mitreißende Dramaturgie. Die Charaktere sind stark, authentisch und vielschichtig gezeichnet, wobei die weiblichen Protagonisten unserer Meinung nach besser ausgearbeitet sind als die männlichen.

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Buchkritik Claudia Schumacher: "Liebe ist gewaltig“

Sprachgewaltiges Debüt über familiäre Verletzungen und eine mögliche Heilung

dtv, 2022, 376 Seiten


Darum geht es:

Die Ich-Erzählerin Juli wächst in einem guten Stuttgarter Vorort auf. Sie ist die jüngste Tochter von vier Kindern. Es ist eine Vorzeigefamilie. Ihre Eltern sind Rechtsanwälte, die Familie ist angesehen. Juli ist Klassenbeste. Doch der Vater tyrannisiert die Familie, er schlägt und drillt auf Leistung. Die Mutter schweigt, streitet ab und kaschiert die Exzesse.


Wir begleiten Juli über drei Kapitel dabei, wie sie versucht, Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Wir erleben sie als 17-jährige Schülerin und schauen ihr als 25-jährige Studentin in Berlin sowie als 27-Jährige in Zürich beim Erwachsenwerden zu. Dabei erfahren wir immer wieder über die wechselnden Beziehungsdynamiken zu den anderen Familienmitgliedern.


Es ist nicht einfach, den Roman auf ein Thema zu begrenzen. Er verhandelt viele verschiedene Themen: neben psychischer und körperlicher Gewalt geht es um den Umgang mit diesen Erfahrungen und den Folgen davon. Themen wie Identität und Einsamkeit spielen ebenfalls eine zentrale Rolle.


Über die Autorin:
Die Autorin, 1986 in Tübingen geboren, hat den gleichen Lebenslauf wie ihre Heldin im Roman. Sie wuchs auf im Stuttgarter Speckgürtel, studierte in Berlin (Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Kunstgeschichte), lebte dann in Zürich. Hier war sie als Journalistin und Kolumnistin tätig. Seit 2018 lebt sie als Autorin in Hamburg. Im Mai 2022 erschien ihr erster Roman und wurde schnell mit dem Literaturpreis der Hamburger Kulturbehörde ausgezeichnet.


Bewertung:

Unsere Bewertung von 3,8 von 5 Punkten zeigt, dass die meisten von uns von dem Roman begeistert waren und diesen weiterempfehlen würden. Die Mehrheit hat das Buch in den Bann gezogen und bis zum Ende mitgenommen. Insbesondere die Sprache war für viele von uns einmalig und ausschlaggebend: der „trotzige Ton“ der Ich-Erzählerin hatte etwas Halt gebendes und Hoffnungsvolles; ihre daraus anklingende Widerständigkeit beeindruckte uns. Einige fanden die Sprache eher störend, sie erschien zeitweise als abgehackt und zu gewollt erschien.


Wir waren uns einig über die Relevanz der Themen des Buches (Gewalterfahrungen im bürgerlichen Milieu), die wir so selten irgendwo anders gelesen haben. Besonders beeindruckte uns die authentischen und präzisen Beschreibungen.


Diese machten es gleichzeitig jedoch auch für viele von uns hart zu lesen. Nicht alle mochten daher das Buch bis zum Ende lesen. Manche fanden den Roman „zu überlagert an Themen“ mit dem einhergehenden Eindruck, dass das Buch manchmal „ein wenig zu viel will“. Darüber hinaus ging auch die Meinung zu der Stärke der einzelnen Kapitel sowie des Endes auseinander.

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Buchkritik Isabel Allende: "Violeta“

Dünn, bemüht und selbstverliebt
Suhrkamp, 2022, 400 Seiten


Darum geht es:
An einem stürmischen Tag des Jahres 1920 kommt sie zur Welt, jüngste Schwester von fünf übermütigen Brüdern, Violeta del Valle. Die Auswirkungen des Krieges sind noch immer spürbar, da verwüstet die Spanische Grippe bereits ihre südamerikanische Heimat. Zum Glück hat der Vater vorgesorgt, die Familie kommt durch, doch schon droht das nächste Unheil, die Weltwirtschaftskrise wird das vornehme Stadtleben, in dem Violeta aufwächst, für immer beenden. Die del Valles ziehen sich ins wild-schöne Hinterland zurück. Dort wird Violeta volljährig. Schon steht der erste Verehrer vor der Tür …


Violeta erzählt uns selbst ihr Leben. Am Ende ihrer Tage schreibt sie ihrem geliebten Enkel einen langen Brief – sie erzählt ihm von ihren halsbrecherischen Affären, den Jahren der Armut, von schrecklichen Verlusten und tiefempfundener Freude, von historischen Vorkommnissen, die ihr Leben geprägt haben: von dem Kampf für die Rechte der Frauen, dem Aufstieg und Fall von Tyrannen und von zwei schrecklichen Pandemien.


Viel lieber möchte er als mathematisch-psychologisches Genie in die Geschichte der Wall Street und damit in die amerikanische Geschichte eingehen, flankiert von seiner liebevollen, zartbesaiteten, naiven Ehefrau, die seinem Reichtum - zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus - einen altruistischen, philantropen Touch verliehen hat.


Über die Autorin:
Allende, geboren 1942 in Lima, Peru, lebt heute in zweiter Ehe in Kalifornien. Sie war als Journalistin und Moderatorin tätig, heiratete früh und bekam zwei Kinder. Nachdem der mit ihr verwandte chilenische Präsident Salvador Allende bei einem Militärputsch 1973 ums Leben gekommen war, ging sie 1975 ins Exil nach Venezuela.


1982 wurde gleich ihr erster Roman "Das Geisterhaus" ein großer Erfolg. Von ihren weiteren Büchern bewegt besonders der 1992 erschienene Roman "Paula": Ihn schrieb Allende am Krankenbett ihrer sterbenden Tochter.


Ihre Bücher haben sich millionenfach verkauft und sind in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Der vielleicht wichtigste von zahlreichen Preisen in Isabel Allendes Karriere ist der ihr 2010 verliehene "Nationale Literaturpreis" Chiles, den vor ihr erst drei Frauen erhalten haben.


So klingt der Roman:
In einem stetigen Strom unfassbar wortreicher Geschichten erzählt Violeta ihr 100 Jahre altes Leben beginnend 1920 in der damaligen Grippepandemie und endend 2020 in der Coronazeit, also wieder in einer Pandemie.


Wir lesen einerseits die inspirierende Geschichte einer eigensinnigen, leidenschaftlichen, humorvollen Frau. Einer Frau, die Aufruhr und Umwälzungen ihrer Zeit nicht nur bezeugt, sondern am eigenen Leib erfährt und erleidet. Und die sich gegen alle Rückschläge ihre Hingabe bewahrt, ihre innige Liebe zu den Menschen und zur Welt.


Das Buch besteht aber aus einer langen Erzählung, enthält wenig wörtliche Rede und mäandert somit ruhig aber doch faszinierend durch das bewegte Leben einer Frau, ihrer Lieben, ihres Liebeslebens und vermengt sich mit historischem Wissen wie so oft in den Büchern von Allende.


Bewertung:
Am Ende war es dann doch für uns etwas langatmig und ohne größere Emotionen, obwohl so viel Grundlegendes und Aufreibendes mit und um Violeta herum passiert.


So fiel auch die Wertung eher durchschnittlich aus. Immerhin erreichte der Roman 3 von 5 möglichen Punkten - für ein Werk, das im Verkauf und in der Bewertung sicherlich sehr von den bisher erschienen Meisterwerken von Isabel Allende und ihrem Namen profitiert.

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Buchkritik Hernan Diaz: "Treue“

Steigert sich zu einem vielschichtigen Werk mit großen Themen
Hanser Berlin, 2022, 416 Seiten


Darum geht es:
Ein Finanzmagnat im New York der 1920er Jahre kämpft um die Deutungshoheit seiner Biographie, um seine Reputation als Börsenguru. Er setzt er alle Macht ein, um eine skandalträchtige, unautorisierte Biographie seiner selbst und seiner philantropen, inzwischen verstorbenen Ehefrau in der Versenkung verschwinden zu lassen. Mit Erfolg.


Viel lieber möchte er als mathematisch-psychologisches Genie in die Geschichte der Wall Street und damit in die amerikanische Geschichte eingehen, flankiert von seiner liebevollen, zartbesaiteten, naiven Ehefrau, die seinem Reichtum - zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus - einen altruistischen, philantropen Touch verliehen hat.


Dazu engagiert er eine Ghostwriterin, die seinem großen Ego hinter seiner spröden Fassade eine authentische Stimme verleihen soll. Dass ihr Vater ein italienischstämmiger Anarchist und antikapitalistischer Aktivist ist, weiß der Auftraggeber längst. Doch die Macht seines Reichtums schirmt ihn von aller Unbill ab. So kann ihm auch der erpresserische Freund seiner Ghostwriterin nichts anhaben. Die zweifelt bei aller Faszination für den Magnaten und dessen Umfeld bald an seinen Angaben.


Wer war die Ehefrau wirklich? Das ungelöste Rätsel holt die Ghostwritern Jahrzehnte später wieder ein. In detektivischer Manier schickt sie sich an, es durch die eigene Stimme der Ehefrau zu lösen.


So klingt der Roman:
Hier werden viele große Themen behandelt. Die Natur des Kapitalismus, die Unterdrückung der Frauen, die blutlose Gewalt, die Geld ausübt, Macht, Ehe, Liebe, Treue, Vertrauen und „Unternehmensfusionen“ (so die Bedeutung des Originaltitels „Trust“) als Allegorie der Ehe des Magnaten. Aber hier hört es nicht auf. Der Autor stellt auch Fragen nach der Deutungshoheit über die eigene und fremde Biographien sowie, welche Auswirkungen eine Todesart und Krankheiten auf die Reputation haben. Zuletzt versucht Diaz sich am Erzählen des Sterbens in Fast-Echtzeit.


Bemerkenswert daran ist die multiperspektivische Erzählstruktur, verwirklicht anhand vierer Dokumente: einer Biographie, einer Autobiographie, eines Memoir und eines Tagebuchfragments.


Die unterschiedlichen Tonarten dieser Dokumente und ihrer Erzähler, besonders an ihrem jeweiligen Zeitpunkt in der Literaturgeschichte, finden deutlichen Ausdruck. So liest sich die unautorisierte Biographie wie ein konventioneller Roman des 19. Jahrhunderts. Die Autobiographie ist zwar bombastisch, aber blutleer – und bleibt dennoch im Spannungsbogen des gesamten Romans. Die Ghostwriterin erzählt ihre eigene Geschichte wiederum im eher reißerischen Stil des „New Journalism“.


Bewertung:
Unsere Bewertung von 4,17 Punkten reflektiert, wie sehr es den meisten von uns der Roman angetan hatte. Gar „so viele neue Welten eröffnet“(e) jemandem das Buch. Auch die anschwellende „slow burn“-Spannung, die ohne jegliche Sex- oder Gewaltszenen auskommt, faszinierte viele. Technisch bestach uns „Treue“ durch seine vielen Ebenen und unterschiedlichen Stimmen. Auch blieb genug Raum für uns Leser, die moralische Bewertung der Figuren selbst vorzunehmen.


Allerdings fiel es den meisten schwer, in den Roman hineinzufinden, und manche kamen nicht über den ersten Teil hinaus, den sie als zu zäh empfanden. Auch die Schilderung der Börsentransaktionen geriet Fachleuten unter uns nicht ganz gelungen. Der Autor selbst beklagt die „Sprache, in der über Geld geredet wird“, wollte diese im Roman vereinfachen und aus einer männlich dominierten Szene herausholen. Ob dies gelang, bleibt offen. Die Sterbeszenen hingegen fanden Fachleute sehr überzeugend und berührend.


Insgesamt erstaunt uns die Fähigkeit des Autoren, sich in beide Geschlechter, verschiedene Epochen und Lebensbereiche einzufühlen.

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Buchkritik Edouard Louis: "Anleitung ein anderer zu werden“

Édouard Louis erzählt mit gewaltsamer Offenheit
Aufbau Verlag, 2022, 272 Seiten


Darum geht es
Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ knüpft Édouard Louis an seinen autofiktionalen Erfolgsroman „Das Ende von Eddy“ aus dem Jahr 2015 an. Aus „Eddy“ wird „Edouard“, und auch ansonsten unternimmt der Ich-Erzähler jeden Versuch, seine Herkunft aus prekärsten Verhältnissen hinter sich zu lassen.


Schicht für Schicht trägt er die Spuren ab, die wirtschaftliche Not, geistige Enge und gesellschaftliche Randständigkeit hinterlassen haben. Doch so sehr Edouard auch räumliche und intellektuelle Distanz zwischen sich und das verarmte nordfranzösische Dorf seiner Kindheit legt, entdeckt er doch immer neue Zeugnisse des Anders-Seins an und in sich.


Ohne Rast und von beinahe manischem Eifer angetrieben nimmt Edouard seinen Weg über die örtliche Bibliothek und das Provinzstädtchen Amiens bis in die höchsten Kreise von Paris. Doch wird er jemals wirklich ankommen?


So klingt der Roman
Édouard Louis erzählt mit geradezu gewaltsamer Offenheit: von Ausgrenzungserfahrungen als schwuler Junge in der verwahrlosten Provinz, vom nimmersatten Aufstiegshunger, der nicht ohne Opfer zu stillen ist. Anders als noch in „Das Ende von Eddy“ mischen sich aber auch versöhnliche Töne in die Erzählung. Das gilt insbesondere für die an die Eltern gerichteten Sequenzen.


Hier klingt an, was Édouard Louis zu einem der aktuell profiliertesten, wenn auch keinesfalls unumstrittenen Intellektuellen Frankreichs hat werden lassen: seine Überzeugung, dass der eigene Ausbruch aus der Welt seiner Kindheit keinesfalls als Beispiel für eine soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft insgesamt missverstanden werden dürfe. Im modernen Frankreich erkennt Édouard Louis eine strenge Klassengesellschaft, die kaum einen Aufstieg gestatte.


Das ist unsere Meinung
„Anleitung ein anderer zu sein“ hat die meisten Shortlistler*innen tief beeindruckt. Die Gnadenlosigkeit, mit der Édouard Louis vor allem auch sich selbst bespiegelt, rührt an. Tempo und Stil der Erzählung haben das Gros unserer Runde gefangen genommen. „Das Ende von Eddy“ gelesen zu haben, ist keine Voraussetzung, steigert aber den Reiz des neuen Buchs von Edouard Louis nochmals. Denn der Vergleich beider Werke lässt die persönliche Entwicklung des Autors – und damit den Kern der „Anleitung ein anderer zu sein“ – besonders gut erkennen.


Bewertung
3,92 von 5 Punkte für „Anleitung ein anderer zu sein“ sind ein selten erreichter Spitzenwert bei der Hamburger Shortlist. Zur Wahrheit gehört aber auch: Noch einen autofiktionalen Roman von Édouard Louis wollte niemand von uns lesen. Wir warten gespannt darauf, ob der Autor ein anderes Sujet finden wird, und ob er damit die bisherigen Erfolge wiederholen könnte.

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Buchkritik Eckhard Nickel: "Spitzweg“

Dünn, bemüht und selbstverliebt
Piper, 2022, 256 Seiten


Über das Buch:

In der Coming-of-Age-Story spielen drei Gymnasiast*innen ihrer Kunstlehrerin einen Streich, in dem einige bekannte Kunstwerke en passant auftauchen. Unter anderem die „Ophelia“ von Millais und Spitzwegs „Gähnender Wachposten“.


Der vom Ich-Erzähler bewunderte Mitschüler Carl gibt sich als kunstgeschichtlicher Connaisseur, seine Betrachtungen stehen im Zentrum der in den 80er-Jahren angesiedelten Geschichte. Kirsten ist die Malerin in diesem Trio - und die meiste Zeit verschwunden. Verhandelt wird die Frage, wie viel Künstlichkeit unser Leben und unsere Wahrnehmung prägen.


Über den Autor:

Der 1966 in Frankfurt am Main geborene Autor studierte in Heidelberg und New York Kunstgeschichte und Literatur und arbeitet als Feuilletonist für SZ und FAZ. Seine Bücher (u.a. Hysteria, Ferien für immer) werden der Popliteratur zugeordnet. Seine Spezialität sind Textsimulationen, also Texte, die nur vorgeben, sich mit sich selbst zu befassen.


Bewertung:

Weil das Buch kaum Handlung bietet und ganz auf kunsthistorische Anspielungen und die Inszenierung romantischer Gefühle setzt, haben wir uns vor allem mit dem Gehalt der angebotenen Elaborate beschäftigt. Dieser erschien uns auch nach einer längeren Diskussion als zu dünn, bemüht und selbstverliebt, um Anregung zu bieten.


Die Figuren „befleißigen“ sich einer manierierten, biedermeierlichen Sprache, die nicht in die Zeit von Sunkist und Raider passt. Das Kreisen um eine Künstlichkeit, neben der ein aufblasbares Plastikeinhorn lebendig wirkt, hatte etwas Ermüdendes, das die Spannungskurve und unser Interesse am Gebotenen unter Null drückte.


So fiel auch am Ende die Wertung aus: 1,38 Punkte von 5 möglichen für einen Roman, dessen Erscheinen auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022 wir uns nicht erklären können.

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Buchkritik Daniel Schreiber: "Allein“

Authentisch formulierter Essay über das Leben mit Freunden
Hanser, 2022, 160 Seiten


Über das Werk:
In seinem Essay thematisiert Daniel Schreiber das Alleinleben sowie das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Rückzug und Freiheit und dem nach Nähe und Geborgenheit.


Hierfür beleuchtet er nicht nur seine eigenen Erfahrungen als homosexueller Single-Mann. Er zieht auch immer wieder die Erkenntnisse verschiedener Philosophen und Soziologen mit heran. Anstelle eines konkreten Handlungsstrangs kann der Lesende Schreiber auf seinem Weg durch Rückblenden, aber auch aktuell Erlebtem, wie Reisen oder seinen Erfahrungen während der ersten Lockdowns in der Corona Pandemie, begleiten.


Über den Autor:
Der 1977 in Mecklenburg-Vorpommern geborene Autor und Journalist Daniel Schreiber studierte zunächst Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Slawistik, Theaterwissenschaft und Performance Studies. Nachdem er zudem sechs Jahre in New York lebte, zog er zurück nach Deutschland, wo er sich in Berlin niederließ. Hier veröffentlichte er auch seine Werke „Nüchtern“ (2014), „Zuhause“ (2017) und schließlich im Jahr 2021 „Allein“.


Bewertung:
Obwohl wir in unserem Buchclub in der Regel nur Romane lesen, überzeugte dieser Essay die meisten von uns. So freuen wir uns über eine Gesamtbewertung von 3,8 von 5 möglichen Punkten. Besonders Schreibers Bestreben. sich einem solch relevanten wie interessanten Thema zu widmen, ohne die eigene Verletzlichkeit im Schreibprozess zu scheuen, sorgt für viel Authentizität. Das gefiel uns.

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Buchkritik Marie NDiaye: "Die Rache ist mein“

Ermüdende Erzählung mit schlichtem Plot und wenig sympathischen Figuren
Suhrkamp, 2021, 236 Seiten


Mit ihrem Roman „Drei starke Frauen“ gewann die aus dem Senegal stammende Französin Marie NDiaye 2009 den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Auch unser Literaturkreis fand die drei sprachlich ganz eigenständigen Geschichten über das Leben afrikanischer Frauen im 21. Jahrhundert gut.


Umso enttäuschter waren wir von dem aktuellen Buch der Autorin. „Die Rache ist mein“ irrlichtert mit schlichtem Plot, sperriger Sprache und durchweg unsympathischen, stets eigenartig agierenden Figuren durch ein trübes Bordeaux.


Inhalt:
Der Klappentext gibt den Inhalt gut wieder. Maître Susane ist erfolglose Anwältin in Bordeaux. Sie erhält in ihrer Kanzlei Besuch. Gilles Principaux bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen. Diese hat ihre drei Kinder getötet. Die Anwältin glaubt diesen Mann aus ihrer Jugend zu kennen: Da war eine Begegnung mit einem älteren, beeindruckenden Jungen aus reichem Elternhaus, die ihrem Leben eine neue Richtung gab. Möglicherweise fand damals aber auch ein Übergriff statt? Trotz dieser möglichen Vorgeschichte übernimmt sie die Verteidigung der Mörderin und versucht deren Motiv zu klären.


Bewertung:
Wir hatten ein spannendes, tiefgründiges Buch erwartet. Vorgefunden haben wir viel unnötiges und oft auch langweiliges Aufheben rund um eine aufgebauschte Grundidee. So blieb völlig unklar, warum die Autorin das Ehepaar Prinicpaux und deren Erklärungen für die Tat im Rahmen einer ermüdenden Aufzählung vorstellt. Warum keine der wenigen Figuren inklusive der Anwältin nachvollziehbare Gefühle zeigt. Warum am Schluss alles im Vagen bleiben würde.


Das Buch lässt uns daher mit einem schalen Gefühl und vielen Fragen zurück. In unserer Bewertung erreichte der Roman in Summe 2 Punkte von 5 möglichen. Die Lobeshymnen von Zeit, SZ, FAZ, Deutschlandfunk Kultur konnten wir leider nicht nachvollziehen. (ut)

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Buchkritik Jonathan Franzen: "Crossroads“

Melancholische Familiengeschichte um Werte und das Leben
Rowohlt, 2022, 832 Seiten


Handlung:
Russ Hildebrandt ist ein Hilfspastor auf geistlichen und fleischlichen Abwegen im mittleren Westen der USA. Auch seine Frau Marion und die drei ältesten der vier gemeinsamen Kinder versuchen sich selbst inmitten gesellschaftlicher und privater Umbrüche neu zu finden. Ob Diäten, Drogenhandel, sexuelle Hörigkeit, Militär- oder ziviler Dienst, Psychotherapie, weibliche Emanzipation, Road Trips, Rockmusik, Europareise, gelebtes Gutmenschentum im Indianerreservat oder der ghettoisierten Nachbarschaft, drogeninduzierte Psychose oder aber drogeninduzierte religiöse Erweckung – alles ist im Repertoire dieser um sich selbst kreisenden Figuren.


Zentral ist dabei die kirchliche Jugendgruppe „Crossroads“, wörtlich der „Scheideweg“ oder eben der „Weg des Kreuzes“, die sich von der klassisch bibelbezogenen Gebetsgruppe zur säkularisierten Psychogemeinschaft gewandelt hat.


Wandelten sich „echte“ Werte in der Säkularisation des 20. Jahrhunderts? Eine Familie - der „Kern der Gesellschaft“ – sucht sich selbst, aber nicht einander, und steht dabei zwischen Wahrhaftigkeit und moralischen Ansprüchen. Ansprüchen, die - das sagt Franzen deutlich - nicht christlich sein müssen oder sein können.


So klingt der Roman:

Franzen zeichnet seine Figuren in gewohnter psychologischer Virtuosität. Er greift dabei auf klassische Erzähltechniken, vergnügliche Multiperspektivität, meisterliche Dialoge, aber auch viel Introspektion seiner Figuren zurück. Das Gespür für die Würze der Kürze bleibt dabei ab und zu auf der Strecke.


Trotz der Länge des Romans, Schwierigkeiten mit dem Sujet und dem Erzählbeginn waren wir größtenteils gefesselt. Das zeittypische und christlich-fundamentalistisch typische antiquierte Frauenbild (der Figuren, nicht des Autors!) erschwerte manchem den Genuss. Andere waren betrübt, dass der Roman nach nur 832 Seiten „schon“ zu Ende war, so vertraut waren sie mit den Figuren und so spannend lasen sich deren Konflikte.


Bewertung:

Unsere durchschnittliche Bewertung von 3,7 Punkten entstand aus sehr guten sowie eher schlechten Bewertungen. An „Crossroads“ scheiden sich nicht nur die Wege, sondern auch die unsere Geister – ebenso wie die Feuilletonisten, trotz oder wegen seines Einstiegs als Nr. 1-Bestseller auf dem deutschen Markt. Wir sind gespannt auf den nächsten Band, denn „Crossroads“ bildet den Auftakt zu einer Trilogie, deren zweiter und dritter Teil in den 2000er Jahren sowie der Gegenwart spielen soll.

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Buchkritik Stephan Thome: "Pflaumenregen“

Identitätssuche auf Taiwan
Suhrkamp, 2021, 529 Seiten


Handlung:
Erzählt wird die Geschichte von Umeko, die uns zunächst als ebenso kluges wie lebensfrohes Mädchen in einem kleinen Dorf im Norden Taiwans begegnet. Es sind die 40er-Jahre, Taiwan ist zu dieser Zeit seit Jahrzehnten japanisch besetzt und kolonialisiert.


Als der pazifische Krieg schließlich auch die Küsten Taiwans erreicht, bricht die vertraute Welt um Umeko herum zusammen. Die bisherigen Herren der Insel ziehen schmählich ab, und es beginnt eine neue Zeit: Was eben noch opportun war, wird jetzt gründlich auf den Kopf gestellt. Denn mit der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg wird Taiwan zur Zuflucht für zahlreiche Festland-Chinesen.


Chiang Kai-Shek und seine Kuomintang errichten ihre Diktatur. Umeko verliert in dieser Zeit ihre Heimat, ihren geliebten Bruder und sogar ihren Namen. Als Lee Ching-mei treffen wir Umeko, inzwischen eine alte Frau, schließlich im Taipeh der 2010er-Jahre wieder.


Zu ihrem Geburtstag trifft sich die Familie in der Stadt, sogar der Sohn aus den USA ist angereist. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit will er Ching-mei/Umeko wieder in das Dorf ihrer Kindheit bringen. Denn dort hat sich Unaussprechliches zugetragen, und der Sohn will das Schweigen der Familie darüber endlich brechen.


So klingt der Roman:
Erzählt wird „Pflaumenregen“ auf zwei zeitlichen Ebenen, die kapitelweise ineinander verschränkt sind. Auch wenn es manchmal ein paar Zeilen braucht sich zurechtzufinden – ein echtes Hemmnis für den Lesefluss ist diese Technik nicht. In der Geschichte von Umeko und den Lebenswegen ihrer Familie spiegelt sich die Geschichte eines Landes, das seit Langem zwischen den Mächten steht und mit seiner eigenen Identität ringt.


Bewertung:
„Pflaumenregen“ haben die meisten in unserer Runde als bereichernde literarische Geschichtsstunde erlebt. Die verpackt Stephan Thome – studierter Sinologe und seit Jahren (auch) in Taiwan beheimatet – in eine elegant konstruierte Handlung mit vielen interessanten Charakteren. Da und dort reißt der Spannungsbogen jedoch, und manche Schilderung versteht man ohne Vorkenntnisse der ostasiatischen Geschichte nur mit Mühe.


Mit 3,4 von 5 Punkten hat „Pflaumenregen“ in unserer Abstimmung vergleichsweise gut abgeschnitten. Auch die professionelle Kritik hatte den Roman überwiegend positiv bewertet. Nicht ausgeschlossen, dass Stephan Thome wieder einmal auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis landet. Allerdings sah sich der Autor auch dem Vorwurf nicht statthafter kultureller Aneignung ausgesetzt. Der Roman, so wurde berichtet, würde deshalb von internationalen Verlagen nicht übersetzt.

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Buchkritik Alex Schulman: "Die Überlebenden“

dramatisch, berührend, großartig
dtv, 2021, 302 Seiten


In Schweden ist Alex Schulman als Autor und Talkshow-Moderator bestens bekannt. Neben vielen Kolumnen, Shows und Web-Blogs hat er bereits neun Bücher veröffentlicht. Eines seiner Themen ist das Verhältnis zu seiner Mutter, die sich früh in den Alkohol flüchtete und für ihr Kind oft nicht erreichbar war. Sein aktueller Bestseller „Die Überlebenden“ hat jetzt auch hierzulande Erfolg – und unseren Literaturkreis durchweg begeistert.


Handlung:
Der Roman handelt von drei Brüdern. Diese kehren als Erwachsene an den Ort ihrer Kindheit zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. In dem Ferienhaus am See haben sie mit den Eltern viele Sommer verbracht. Auf den ersten Blick ein schwedisches Idyll. Doch die Erinnerung an diese Zeit ist bei allen dreien schrecklich: Die Mutter und der inzwischen verstorbene Vater waren ihnen gegenüber oft lieblos, gleichgültig, grob. Die Kinder mussten um die Liebe der Eltern wetteifern und entfernten sich dabei immer weiter voneinander.


Aufbau:
Der Roman setzt ein mit einer Prügelei dreier Brüder mittleren Alters am See – und erzählt dann in Rückblenden die Geschichte dieser Männer. Die Rückblende-Kapitel wechseln sich ab mit der gegenläufigen Geschichte. Die beginnt in der Vergangenheit. Sie erzählt die Kindheit der Brüder mit ihren Eltern am See - mit ihrer Angst und ihren verzweifelten Versuchen, ihre Eltern im alltäglichen Grauen zu erreichen. Beide sind Trinker. Die gegenläufigen Handlungsstränge machen den Roman anfangs unübersichtlich, aber auch extrem dicht und spannend zu lesen.


Bewertung:
„Die Überlebenden“ hat gute Rezensionen erhalten. Die SZ findet den Text als Familienroman „großartig, intensiv und mit einem enormen Sog. Er legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen, ihre ungestillten Sehnsüchte wie ihre mal spielerische, mal unerbittliche Konkurrenz“. NDR Kultur ist begeistert von dem „meisterhaften, formstrengen, tief anrührenden Buch.“


Auch die Shortlist fand diesen Familienroman absolut lesenwert und vergab vor allem Bestnoten für den grandiosen Aufbau und die Dramaturgie. Auch Handlung, Sprache und Stil sowie Thema haben wir durchweg gut bewertet. Mit 4,2 Punkten von 5 möglichen insgesamt erreichte „Die Überlebenden“ damit eine der besten Bewertungen der letzten zwölf Monate.

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Buchkritik Mithu Sanyal: "Identitti“

Als Roman getarnter Essay über eine feminine Identitätspolarität
Carl Hanser Verlag, 2021, 424 Seiten


Der Plot
Identitti ist der Nickname der jungen Bloggerin und Studentin Nivedita, die in Deutschland lebt. Sie äußert sich zu Rassismus, Migrationsgeschichte, sexuellen Identitäten sowie Orientierungen und führt identitätspolitische Debatten auf mehreren Social-Media-Accounts.


Die Herkunft ihrer Eltern – ihre Mutter ist aus Polen, ihr Vater aus Indien – konfrontiert Nivedita mit verschiedenen Kulturkreisen. Sie verehrt ihre Professorin für postkoloniale Theorie und schwärmt für deren Ansichten zum Thema rassistische Diskriminierung. Die Professorin, die sich nach der hinduistischen Göttin selbst Saraswati nennt, gibt vor, indischer Abstammung zu sein. Nivedita schwärmt auch für ihre Kusine väterlicherseits, Pretty, die von England nach Deutschland kommt. Liebesgeschichten dieser drei Protagonisten flankieren die Stories um die Identitätssuchen von Nivedita und Prof. Saraswati. Beide geraten in einen digitalen Shitstorm, als Prof. Saraswati ihre wahre Identität publik macht.


Zur Autorin:
Dr. Mithu Sanyal (51) lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Düsseldorf-Oberbilk und ist vor allem als Journalistin, u. a. für die Tageszeitung (taz), Frankfurter Rundschau, den WDR, NDR und BR, tätig. Sie studierte deutsche und englische Literatur. Aus ihrer Doktorarbeit über die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts entstand 2009 ihr erstes Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts”, das 2017 neu aufgelegt wurde. Für ihre 2016 erschienene Debattengeschichte „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ wurde sie mit dem Preis „Geisteswissenschaften international“ ausgezeichnet. Diese Veröffentlichung wurde allerdings kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert. „Identitti“ ist Sanyals Romandebüt. Im Oktober 2021 wurde sie vom PEN-Zentrum-Deutschland aufgenommen.


Viele philosophische Ansätze ohne echte Konflikte
Der Roman spielt im universitären Milieu und enthält daher zahlreiche theoretische Reflexionen. Die Figuren des Romans wirken als Vehikel, um die Thesen platzieren zu können; sie tragen die Theorien der Autorin. Die Autorin spielt mit Assoziationen und Zitaten aus der Weltgeschichte. Die sind nur für die erkennbar, die das nötige Hintergrundwissen haben.

In Rezensionen wurde der Roman überwiegend sehr positiv besprochen, zumal das Thema anfangs erfrischend und locker mit einem gewissen Witz begonnen wurde.


Der Hamburger Shortlist hat die Idee des Buches zwar grundsätzlich gefallen, allerdings bleibt nach der überwiegenden Auffassung der Gruppe der Plot nach etwa einem Drittel des Buches stecken.

Denn Nevidita befindet sich nach dem Auffliegen der Identität der Professorin fast nur noch in deren Wohnung. Die Themen werden diskutiert, zum Teil aber zu flach abgehandelt.


Auffällig ist, dass die Eltern von Nevidita nur eine nebensächliche Rolle spielen. Ihre Mutter wirkt eher schlicht, der Vater verständnislos. Dies mag ein Grund sein, weshalb Nevidita Halt bei ihrer Professorin sucht. Diese Figur wiederum stellte im Grunde eine doppelte Provokation dar: Sie verschleiert einerseits die Herkunft und Identität ihrer Person und gibt vor eine sogenannte „Person of Colour“, kurz PoC, zu sein. Andererseits wirft sie die Frage auf, ob eine Person, die – offiziell – keine PoC ist, sich zu Themen, die PoC angehen, äußern darf und sollte.


Diese sowie einige andere Situationen werden im Buch ins Absurde gesteigert und überdreht. Was als humorvolles Gestaltungsmittel gedacht ist, führt dazu, dass die inhaltliche Debatte vom Leser nicht mehr ernst genommen wird.
Durch die zahlreichen Erläuterungen wirkt der Roman zudem sehr belehrend. Dem Leser werden Meinungen regelrecht aufdoktriniert. Ein „Soll“ lässt jedoch keinen positiven Zugang zum Thema zu.


Die Absicht des Buches ist nicht klar: Es ist halb dokumentarisch, manches wirkt jedoch überkonstruiert. Darüber hinaus gefiel den meisten aus der Gruppe die sehr lockere, jugendliche Sprache nicht. Wegen des fehlenden klassischen Handlungsstranges wurde das Buch als eher anstrengend empfunden.


Bewertung
Das Thema des Romans wurde mit 3,8 von 5 Punkten als interessant eingestuft. Die Bewertungen von Stil und Sprache, Aufbau und Dramaturgie sowie Plot und Handlung erreichten nur zwischen 2,1 und 2,4 Punkten. Das Buch wurde daher mit 2,6 Punkten nur durchschnittlich gern gelesen. Insgesamt ergab die Gruppenbewertung 2,6 Punkte.

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Buchkritik Christian Kracht: "Eurotrash“

Der Titel ist Programm

Kiepenheuer&Witsch 2021, 224 Seiten


Darum geht es:
Der Ich-Erzähler reist mit seiner 80 Jahre alten, alkohol-, Tranquilizer- und kaufsüchtigen Mutter durch beider Heimatland, die Schweiz, von Zürich nach Winterthur.

Die exzentrische alte Dame wähnt sich auf einer Reise nach Afrika, während der Sohn sie mit Umwegen über ein vermeintliches Hotel, ein Fischrestaurant, einen Beinahe-Raub, einen Gletscher im Geldregen und das väterliche Chateau zurück in die Psychiatrie führt.


So klingt der Roman:
In dem als Roadmovie angelegten Roman geht es weniger um die Odyssee durch das Außen als um die Reise durch zwei verschiedene Erinnerungswelten – die des Erzählers und die seiner Mutter.


Dabei bleiben auch Traumata, individuelle und gesamtdeutsche, nicht ausgespart. Vor allem aber berührt die unmittelbar im autorentypischen Reportagestil erzählte, mal bissige, mal liebevolle Charakter- und Beziehungsstudie von Mutter und Sohn.


Das ist unsere Meinung:
Den meisten von uns gefiel allem voran der Erzähler nicht, dessen Arroganz nur von der Konstruiertheit der Handlung übertroffen werde. Beides, obgleich laut Kritik vom Autor in den Dienst eines übergeordneten literarischen Zieles gestellt, verfing bei uns in keiner Weise.


In den Feuilletons besprochen und überwiegend (hoch-)gelobt, für den deutschen Buchpreis auf der Shortlist, wird immer wieder auf die Verbindung zwischen diesem Roman und dem Debüt des Autors „Faserland“ (1995) hingewiesen. Tatsächlich tritt in Eurotrash und in Faserland scheinbar der gleiche Ich-Erzähler auf – oder doch nicht? Das Genre der Autofiktion wird dabei mittels doppelter Böden in „Eurotrash“ gehörig aufs Korn genommen.


Die Technik des unzuverlässigen Erzählens kam in unserer Runde jedoch denkbar schlecht an. Wir diskutierten unzuverlässiges und/oder unsympathisches Erzählen allgemein. Lediglich eine Leserin wertete die erzählte Beziehungsstudie höher als den umstrittenen Stil des Romans.


Bewertung:
Die durchschnittliche Bewertung mit 2,3 Punkten bildete alles ab, was uns an dem Roman störte – ob nun künstlerisch beabsichtigt oder nicht, bleibt offen, und für die Rezeption abseits der Feuilletons wenig relevant.

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Buchkritik Kazuo Ishiguro: "Klara und die Sonne“

Sind Roboter die besseren Menschen? Dystopie mit wenig Lichtblicken

Karl Blessing Verlag, 2021, 350 Seiten


Der Plot
Klara ist eine KF, eine künstliche Freundin für Teenager. Aus ihrer Perspektive erzählt der Autor seinen Roman, der in einem Spezialgeschäft für Roboter beginnt.

Die 13jährige Josie, ein Mädchen aus recht wohlhabendem Hause, entscheidet sich zum Kauf von Klara.


Der Roman spielt in einer dystopischen Zukunft, in der die Gesellschaftsordnung verändert ist. Eltern müssen entscheiden, ob sie ihre Kinder genetisch verändern, um ihnen eine bessere schulische Ausbildung zu ermöglichen. Kinder, die nicht „gehoben“ sind, haben weniger Zukunftschancen, können die meisten Colleges nicht besuchen und den Schulunterricht kaum finanzieren.


Josie, so erfährt man im Laufe des Buches, ist Infolge der Hebung ihrer Intelligenz häufig krank und körperlich schwach. Sie droht wie ihre Schwester Sal daran zu sterben. Während die Eltern von Josie Vorkehrungen für die Trauerverarbeitung im Falle des Todes ihrer zweiten Tochter treffen, arbeitet Klara daran, eine Heilmethode für Josie zu finden und einen Pakt mit der Sonne zu schließen.


Zum Autor
Kazuo Ishiguro (67) hat einen fiktiven Roman mit Science-Fiction-Elementen geschrieben. Er will damit auf die ethischen Fragen rund um künstliche Intelligenz und die damit verbundenen Veränderungen der Persönlichkeit von Menschen aufmerksam machen.

Ishiguro, der früher als Sozialarbeiter tätig war und sich bis heute für soziale Projekte engagiert, erhielt für seinen Weltbestseller „Was vom Tage übrig blieb“ den Booker Prize und 2017 den Nobelpreis für Literatur. Schon in 2005 hat er sich in seinem Roma „Alles, was wir geben mussten“ mit dem Zukunftsthema „Klonen und Organhandel“ beschäftigt.


Kaum Drama bei gleichmäßiger Empathie
Vor allem im ersten Teil des Romans sind Klaras Beobachtungen in eher einfacher Sprache gehalten. Das mag zum Thema passen: Klara ist auf die Gefühlswelt von Teenagern programmiert. Doch Klara wirkt hier wie auch im zweiten Teil des Buches auf den Leser eher langweilig; eine Figur, die mit wenig Charakter ausgestattet ist und deren Verhalten sowie Empathie für die Menschen immer gleich sind. Sie ist devot gegenüber den Menschen sowie stets hilfsbereit und bemüht, die Gefühle von Josie und allen Menschen um sie herum zu verstehen und bei Bedarf zwischen ihnen zu vermitteln.

Eine größere Entwicklung der künstlichen Freundin, die trotz Programmierung immer weiter dazu lernen und viel beobachten soll, kann bis zum Ende des Romans kaum entdeckt werden. Vielmehr scheint ihre Figur zum Teil nicht ganz stimmig und rund beschrieben zu sein, zumal sie als Automat bzw. Computer Furcht empfindet, mal supernaiv ist, mal übermenschlich.


Auch der Autor traut sich in diesem Roman keine starken Entwicklungen und Konflikte zu. Er meidet ein schicksalhaftes Ende, setzt lieber auf ein – konstruiert wirkendes und zu schnelles – Happy End. Ein zunächst aufgebauter Spannungsbogen bleibt ohne befriedigende Lösung.


Insgesamt kamen die ethischen Aspekte, insbesondere hinsichtlich künstlicher Intelligenz und ihres Einflusses auf menschliches Verhalten, zu kurz.


Technikphilosophische Ansätze sind kaum erkennbar. Dadurch, dass der Autor zahlreiche Aspekte im Roman absichtlich auslässt, rätselt der Leser lange, was es mit Begriffen wie „gehoben“, „KF“ und „B3“ sowie mit der Krankheit von Josie auf sich hat oder, weshalb Josie’s Vater nicht mehr in seiner alten Arbeitsstätte tätig ist.


Die Sonne, die vermutlich als roter Faden des Buches gedacht ist, und ihre – wie Klara naiv annimmt – direkt heilende Wirkung auf Lebewesen, vermag keinen Lichtblick auf die nicht näher beschriebene Dystopie, die offenbar vorherrscht, zu werfen. Das Ende des Buches erscheint selbst für einen Zukunftsroman unrealistisch.


Gleichwohl regt der Roman zum Nachdenken an und war in Teilen berührend. Zahlreiche ethische Fragen zum Thema künstliche Intelligenz hätten aber noch besser abgearbeitet werden können.


Bewertung
Obwohl das Buch klar in sechs Teile gegliedert und chronologisch aufgebaut ist, wurden Aufbau und Dramaturgie mit durchschnittlich 2,3 von fünf Punkten am schlechtesten bewertet - und entsprechend der Roman auch nicht gern gelesen. Dies gilt auch für den mit 2,5 Punkten bemessenen Plot. Die durchweg eher jugendliche Sprache sowie das Weglassen von Personalpronomen und die Darstellung von Akzenten wie etwa bei der Haushälterin beurteilten wir mit 2,7 Punkten nur durchschnittlich, zumal von einem dermaßen renommierten Autor mehr erwartet worden war. Demgegenüber wurde das Thema des Romans als sehr interessant empfunden und mit 3,6 Punkten honoriert. Insgesamt ergab die Gruppenbewertung 2,7 Punkte.

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Buchkritik Ayad Akhtar: "Homeland Elegien“

Muslimisches Lebens in den USA: Eine Suche in Gesprächen, Begebenheiten, Situationen

Claassen Verlag, 2020, 464 Seiten

Darum geht es
Heimat, Zugehörigkeit, Identität – Pulitzer-Preisträger Ayad Akhtar fügt aus Mosaiksteinen autobiografischer Berichte und fiktionaler Erzählungen ein großes Gesellschaftspanaroma der USA als einem zusehends zerrissenen Land zusammen. Wo in dieser Suche nach sich selbst die Grenzen zwischen Wahrheit und literarischer Freiheit verlaufen, verrät der Autor seinen Leser*innen nicht. Sicher aber ist: Wie sein Alter Ego im Roman wuchs auch Ayad Akhtar als Sohn pakistanischer Einwanderer im Mittleren Westen der USA auf, und schaffte auch Akhtar mit einem vieldiskutierten Theaterstück über einen muslimisch-amerikanischen Blick auf die Anschläge vom 11. September den Sprung auf die große Bühne der Literatur.


Das Thema hat den Autor seither nicht mehr losgelassen. Und so lässt er die Leser*innen seiner „Homeland Elegien“ teilhaben an Gesprächen, Begebenheiten, Situationen seines Lebens, die alle um die eine Frage kreisen: Wie kann man heimisch sein und werden in einem Land, in dem viele nicht erst seit den Trump-Jahren mit teils unterschwelliger, teils offener Ablehnung auf Muslime blicken?


Akhtars Mutter träumt von der Rückkehr nach Pakistan – ein verklärter Blick in die vergangene Jugend, der, von einer befreundeten Familie wahrgemacht, im Albtraum des Jihad endet. Der Vater wird als Kardiologe für kurze Zeit zum Leibarzt von Donald Trump und findet Karriere und Ehre am Ende in einem von Rassismus geprägten Prozess zerschlagen. Oder Riaz, der als tollkühner Finanzjongleur die Gier des Kapitalismus für Moschee-Projekte einsetzen will. Die Antworten auf die große Frage des Buches sind so verschieden wie die Menschen, die Ayad Akhtar zeichnet. Am Ende wird klar: Er selbst wird ein Suchender bleiben.


So klingt der Roman
Ayad Akhtar wechselt gekonnt zwischen biografischem Bericht, einfühlsamer Erzählung und pointierten Dialogen. Theatermann, der er ist, gelingen ihm insbesondere in den Schilderungen seiner Erlebnisse am 11. September und der Gerichtsverhandlung gegen den Vater im ländlichen Wisconsin bildmächtige Szenen, die im Gedächtnis bleiben.


Das ist unsere Meinung
Die in der veröffentlichten Kritik häufig thematisierte Frage nach Wahrheit und Fiktion spielte in der Diskussion der Shortlistler*innen nur eine untergeordnete Rolle. Zu beeindruckt war der größte Teil der Runde von den eindringlichen Schilderungen des alltäglichen Rassismus. Die Technik, mit der Ayad Akhtar aus einer Vielzahl kleiner Szenen ein großes Bild schafft, wurde meistenteils ebenso gelobt. Ob der Roman auch die deutsche Debatte um strukturelle Ausgrenzung und Integration befördern kann, musste im Shortlist-Zirkel offenbleiben. Jedenfalls aber wird, wer Akhtars „Homeland Elegien“ gelesen hat, ein tieferes Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Situation in den USA entwickeln.


Fazit
3,3 von maximal 5 möglichen Punkten haben die „Homeland Elegien“ erreicht. Neben vielen noch besseren Bewertungen gab es auch einzelne Stimmen, die sich mit Sprache und Struktur – vor allem der englischen Originalfassung – nicht recht anfreunden konnten.

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Buchkritik Annette Mingels: "Dieses entsetzliche Glück“

Brüchige Beziehungen
Penguin Verlag 2020, 352 Seiten


Buch:
Annette Mingels erzählt in ihrem Buch „Dieses entsetzliche Glück“ vom Leben in der amerikanischen Kleinstadt Hollyhock. Die Stadt ist fiktiv, Mingels siedelt sie in Virginia an, an der amerikanischen Ostküste mit einem „überschaubaren Zentrum, von dem die Wohnstraßen abzweigten, wie die Äste eines Stammes“. Hierhin sind die Protagonisten des Buches gezogen, sind hier aufgewachsen, kommen zurück. Annette Mingels erzählt in 15 lose verknüpften Episoden aus ihrem Leben.


Handlung:
Eine zentrale Figur des Buches ist der junge Schriftsteller Kenji. Kenji hat japanische Wurzeln und ist in mehreren Episoden als Hauptfigur und auch als Nebenfigur präsent.


Keji hat einen Bestseller geschrieben, in dem er seine Jugendliebe zu Lucy und seine schwierige Freundschaft mit Basil aufarbeitet. Lucy, Basil, dessen Familie und deren Sichtweise kennt der Leser aus eigenen Episoden. Wie Puzzlestücke fügen sich die einzelnen Geschichten ineinander und nehmen den Leser gefangen.


Autorin:
Mingels ist Jahrgang 1971, hat als Journalistin und Autorin gearbeitet, und lebt aktuell mit Mann und drei Kindern in San Francisco. In ihrem Buch erzählt sie so auch vom Leben der amerikanischen Mittelschicht.


Tatsächlich könne sich vieles aber auch genauso in Delmenhorst oder Blankenese abspielen, sagt Mingels in einem Interview : „Die Menschen in diesen Short Stories haben universelle Probleme, die überall auf der Welt passieren können“.


Sechs Romane hat Annette Mingels bislang verfasst, Ehe und Familie spielen darin eine wichtige Rolle.


Stil:
Gemeinsam ist den Geschichten jeweils ein grandioser Anfang – und dass sie oft im Offenen enden. Und selten ist der Lebensentwurf trotz aller Mühen und Anstrengungen geglückt. Krankheit, Tod, unglückliche und sprachlose Paare: Die Geschichten lassen einen oft sehr melancholisch zurück.


Annette Mingels schreibt dabei sehr detailliert, zeichnet Gefühle und Beziehungen einfühlsam und doch unaufgeregt nach. „Der typische Mingels-Satz entfaltet seinen Zauber, seine Lebensklugheit und psychologische Präzision im leicht verzögerten Nachhall - dann aber umso stärker“, formuliert treffend die Wochenzeitung Die Zeit.


Bewertung:
Auch von unserer Gruppe wurden Stil und Sprache wurden einheitlich gelobt. Die Konstruktion als Episodenroman fanden wir ebenfalls alle gut. Allerdings ging einigen von uns nach der Hälfte des Buches der Überblick und damit auch die Spannung verloren. In Summe erreichte „Dieses entsetzliche Glück“ daher 3,4 von 5 Punkten.

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Buchkritik Deniz Ohde: "Streulicht“

Zermürbend und zugleich berührend
Suhrkamp Verlag, 2020, 284 Seiten


Deniz Ohde schreibt über den Umgang der Gesellschaft mit denen, die nicht dazu gehören.

In einer nicht genannten Industriestadt wächst die Ich-Erzählerin auf. Das Bild wird beherrscht von Industriescheinwerfern und dem Geruch der Müllverbrennungsanlage.
Als Kind eines "ordentlichen" Arbeiters und einer türkischen Mutter sucht Sie vergeblich Ihren Platz. Umgeben von tonnenweise Müll und Ramsch wächst das Kind zu einer jungen Frau heran. Gepeinigt von ständigen Vorurteilen und Unterschätzung gestaltet sich ihr Leben umweg reich. Die Mutter verlässt die Familie, schafft den Absprung jedoch nicht und kehrt schließlich geschlagen zurück. In dieser Welt ganz ohne Vorbilder, nur von dem geleitet, "was sich gehört", findet die Protagonistin keinen Halt.
Ihre Vergangenheit wird schmerzhaft genau ausgeleuchtet. Ihre Zukunft bleibt offen.


Autorin:
Mit ihrem Debütroman landet Deniz Ohde einen vollen Erfolg. Sie ist Kandidatin auf der Longlist des deutschen Bücherpreises und steht auf den Bestsellerlisten von Focus, Stern und Börsenblatt.
Die Kritik ist von dem Roman begeistert. "Ihre Wahrnehmung für Details und ihre Fähigkeit, Atmosphären daraus entstehen zu lassen, ist bemerkenswert", freut sich Elke Schmitter im Spiegel. "... ein wirklich überzeugendes Debüt. Auf einfühlsame Weise, ohne jemals kitschig oder rührig zu wirken, zeichnet Deniz Ohde darin den schwierigen Weg vom migrantischen Arbeiterkind zur Akademikerin nach", lobt Ingo Eisenbeiß im Deutschlandfunk.

Zur These, es könnte sich um ein autobiographisches Werk handeln, äußerte sich die Autorin bisher nicht.


Bewertung:
In unserer Runde konnte der Roman leider nur wenig punkten. Die Atmosphäre fanden wir bedrückend. Der Geschichte fehlen Abschluss und Spannungsbogen; Erinnerungen reiht sich an Erinnerung.

Die so entstandene Zähigkeit machte es für viele von uns daher zu einem mühsamen Unterfangen, das Buch zu Ende zu lesen. Zudem frustriert die kaum zu ertragende Passivität der Protagonistin. Möglicherweise war dies jedoch das Ziel der Autorin. Lediglich dem Thema sowie dem Stil konnten einige von uns noch etwas abgewinnen. Mit 2,7 von 5 möglichen Punkten können wir dieses Buch daher nur bedingt weiterempfehlen.

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Buchkritik Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort“

Bewegender, wunderbar komponierter und erzählter Familienroman
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018, 464 Seiten


„Stellt euch vor, ich bin fort“ ist ein Familienroman, der aus den fünf Blickwinkeln der Familienmitglieder John, Margaret, Michael, Celia und Alec erzählt wird. Haslett macht darin den innerfamiliären Umgang mit psychischen Erkrankungen zum Thema und lässt zugleich seine persönlichen Erfahrungen mit einfließen.


Handlung:

Im London der 1960er Jahre erfährt die junge Amerikanerin Margaret, dass ihr britischer Verlobter John manisch-depressiv ist. Sie entscheidet sie sich für ein Leben mit ihm und somit auch mit seiner Krankheit. Ihre Familie wächst, sie ziehen nach Amerika, bekommen die drei Kinder Michael, Celia und Alec, und versuchen ihr Bestes, zunächst der Depression Johns und später der psychischen Angststörung Michaels die Stirn zu bieten. Und doch merkt man, wie sehr die Krankheit die ganze Familie im Griff hat, wie sehr sie sich in das Handeln, Denken und Fühlen aller hineingebohrt hat. Die eigentliche Handlung dieses Romans ist somit viel mehr die Entwicklung seiner fünf Protagonisten.


Autor:

„Stellt euch vor, ich bin fort“ ist Adam Hasletts zweiter Roman. Er wurde für den Pulitzer Preis, den National Book Award und den National Book Critics Circle Award nominiert. Der 1970 in New York geborene Autor verarbeitet mit dem Buch den Freitod seines eigenen Vaters. Er betont, dass es sein persönlichstes Werk bisher ist, an dem er über fünf Jahre gearbeitet hat.


Bewertung:

Obwohl dieser Roman ein so ernstes Thema wie psychische Erkrankungen und den Umgang damit thematisiert, findet auch die Kritik: „Der Roman deprimiert nicht. Er bewegt und rührt und ermutigt vielmehr dazu, das Ungeheuer mit Verständnis und Liebe zu bändigen“ (FAZ). Zusammenfassend meint auch der Tagesspiegel: „Ein komplexer, wunderbar erzählter und komponierter, manchmal zu Herzen gehender Familienroman.“


Auch in unserer Runde gab es kaum Kritik und dafür viel Begeisterung für „Stellt euch vor, ich bin fort“. Mit 4 von 5 möglichen Punkten erhielt der Roman eine der höchsten Bewertungen, die wir in der vergangenen Zeit vergeben haben.

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Buchkritik Mario Vargas Llosa: "Harte Jahre“

Interessantes Thema enttäuschend umgesetzt, ermüdende Lektüre
Suhrkamp 2020, 411 Seiten


Darum geht es:

Mario Vargas Llosa "Harte Jahre" erzählt die politische Geschichte Guatemalas zwischen etwa 1944 und 1957. Schwerpunkt sind die beiden demokratischen Präsidentschaften von Juan José Arévalo und von Jacobo Árbenz Guzmán sowie die nachfolgende Diktatur von Oberst Carlos Castillo Armas. Llosa beschreibt, wie ein Putsch die beginnende Demokratisierung des Landes im Keim erstickte. Es folgte eine Militärdiktatur von Gnaden der USA.


Laut Klappentext erwarten die Leser ein "vielstimmiges Romanepos über Macht, Verschwörung und Verrat – über die Fallstricke der Geschichte und die dreisten Machenschaften imperialer Politik. Und ein virtuoser literarischer Hochseilakt"



So klingt der Roman:
Nein, einen virtuosen Hochseilakt konnten wir Leser:innen nicht erkennen.


Kein Zweifel, das Thema des Buches ist hochinteressant. Wie die USA die Demokratisierung Guatemalas von oberster Stelle untergraben und rücksichtslos unterbunden haben, ist erschütternd zu lesen. Präsident Guzman stürzte im Jahr 1954 durch einen Militärputsch, der von der CIA durch Verleumdung in die Wege geleiteten und orchestriert wurde.


Anlass dieser Intervention war die bedrohte Monopol-Stellung der US-amerikanischen Fruit-Company in Guatemala. Die Regierungen unter Präsident Guzman und Arbenz planten eine Bodenreform. Sie wollten Steuern erhöhen, Gewerkschaften zulassen und gar Mindestlöhne einführen. Mit gezielten Falschmeldungen und völlig fakten-befreiten FakeNews, die dennoch von der Presse weltweit - und insbesondere in den USA - willig aufgenommen und verbreitet wurden, wurde die Angst vor einem drohenden Kommunismus und "Sowjetisierung" geschürt. Und damit das Fundament für die Intervention in Guatemala gelegt, die das Land und nicht zuletzt ganz Mittel- und Südamerika für Jahrzehnte in verheerende wirtschaftliche und politische Verhältnisse stürzte.


Diese Gemengelage hat der Autor in einem übervollen Roman verarbeitet, in dem historische Tatsachen, gepaart mit realen und fiktiven Personen und eine Unmenge an Daten, Namen, Zahlen und Randnotizen mit mehreren Parallelhandlungen aufbereitet sind.


Das ist unsere Meinung:
Nur mit Mühe - und schon gar nicht bei schnellem Lesen - wird die Konstruktion des Buches erkennbar: jedes zweite Kapitel beschreibt den Abend des Attentates auf Präsident Armas und die Lebensgeschichte der beiden Attentäter in den darauf folgenden Jahren. In den Kapiteln dazwischen werden ohne zeitlichen Zusammenhalt Erinnerungen, Lebensgeschichten, Anekdoten und Gegebenheiten von anderen Protagonisten erzählt.


Es drängt sich der Verdacht auf, dass einem hochdekorierten Literaturnobelpreisträger das Lektorat nicht in dem Maße zusetzt, wie es dem Buch (oder den Lesern) gut getan hätte. Viele von uns Leser:innen haben andere Bücher von Mario Llosa gerne gelesen. "Tante Julia und der Kunstschreiber" oder "Das Fest des Ziegenbocks" sind uns als großartige Romane in Erinnerung.


Die Lektüre dieses Buches ist verglichen damit enttäuschend. Die Namensklauberei aller vorkommenden Personen ist ermüdend (und nicht notwendig), das geringschätzige Frauenbild des Autors ist entsetzlich - und selbst bei Wohlwollen nicht durch die 1950er Jahre, in denen die Handlung angesiedelt ist, zu entschuldigen. Fehlende Innerlichkeit der handelnden Personen macht es schwer bis unmöglich, die Intentionen oder gar Motivationen der Protagonisten nachzuvollziehen.


Die Geschichte Guatemalas wird uns Leser:innen zugänglich gemacht - das allerdings schon im ersten Kapitel, welches wohl das spannendste und informativste des ganzen Buches ist. Nur eine Leserin in unserem Kreis konnte einen virtuosen Spannungsbogen im Buch erkennen, den anderen blieb diese Erkenntnis verwehrt. Der Spagat zwischen Belletristik und Historischem Roman ist aus unserer mehrheitlichen Sicht also nicht gelungen.


Fazit:
In unserer Bewertung fiel das Buch im schlechten Sinne aus dem Rahmen: wir kamen in Summe auf die sehr kleine Gesamtnote von 2,1. Dabei wird diese Gesamtnote sogar noch von der Unterrubrik "Thema interessant" nach oben gezogen, in der unser Kreis eine ungewohnt gute Note von 4,5 verlieh. Alle anderen Unterrubriken wie "Stil & Sprache", "Handlung & Plot", "Aufbau & Dramaturgie" sind fast alle mit 1.5 benotet worden; die Rubrik "Gern gelesen" wurde von uns sieben benotenden Leser:innen im Schnitt sogar nur mit einer kargen 1,0 benotet. Damit ist dises Buch von Maio Llosa eines der Schlusslichter in unseren Leseempfehlungen.

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Buchkritik Birgit Birnbacher: "Ich an meiner Seite“

Geschichte eines jungen Ex-Häftlings
Paul Zsolnay Verlag, 2020, 304 Seiten


Die Geschichte:
Arthur, 22, hat 2 Jahre Haft wegen Internet-Betruges hinter sich und tritt sein Resozialisierungsjahr in Wien an. Dazu gehört nicht nur die therapeutische Wohngemeinschaft inklusive Tagesstruktur und Gesprächsrunden, sondern auch Gespräche mit dem Sozialarbeiter und alkoholkranke Möchtegerntherapeut Konstantin „Börd“ Vogl.
 
Dies bildet den Rahmen für erzählerisch verstreute Rückblenden in Arthurs Kindheit, Elternhaus und Jugend. Die führt auf unkonventionellem Weg vom Kleinbürgermief in die Wohlstandsverwahrlosung. Die unterschwelligen Konflikte einer adoleszenten Dreiecksbeziehung führen zum Unfalltod seiner Freundin. Seiner Trauer durch eine fast plakative Beziehungslosigkeit schutzlos ausgeliefert, betrügt man ihn um sein letztes Geld. Dies ebnet ihm, zusammen mit kafkaesken bürokratischen Hindernissen am Aufbau einer bürgerlichen Existenz, den Weg in die Cyberkriminalität.
 
Bei der Job- und Wohnungssuche scheitert Arthur immer aufs Neue an seiner Vorstrafe. Eingestreute, nicht humorfreie Schnappschüsse aus der Obdachlosenhilfe und dem sozialen Wohnungsbau bieten Blicke in eine Zukunft, die so gar nicht zum schüchternen und im Grunde anständigen Arthur passen wollen.
 
Einzig die abschließende Wiedervereinigung mit seinem älteren, „verlorenen“ Bruder, der alle Insignien eines respektablen Lebens aufweist, könnten Arthur noch retten.


Stil & Sprache:
Wir waren uns einig, dass die Sprache zweckmäßig, aber auch nicht besonders schön ausfällt.


Plot & Dramaturgie:
Viele konnten der Handlung trotz einiger Zeitsprünge gut folgen. Einigen machten die Rück- und Vorwärtsblenden dagegen besonders den Einstieg in den Roman schwer. Die Schwere der Strafe im Verhältnis zum Delikt bei einem sehr jungen Erststraftäter störte ebenso, insbesondere diejenigen Leser mit juristischem Fachwissen. Als erschütternd, aber realistisch bewerteten wir die fehlende Führung des Jugendlichen und später adoleszenten Arthur ins Erwachsenenleben. Bei so viel Sozialrealismus gefielen uns allerdings die satirischen Szenen besonders. Dass Resozialisierung, konträr zum Klappentext, nicht das Thema des Romans und obendrein unzureichend recherchiert war, störte einige. Die empathische Figurenzeichnung war anderen wiederum ein begeisternder Ausgleich.


Bewertung:
Die Gesamtwertung von 3,5 spiegelt die überwiegend positive Rezeption von „Ich an meiner Seite“ wider.

Die intensive Diskussion um die Güte der Recherche, aber auch um die Glaubhaftigkeit der Hauptfigur und ihrer Motive, sowie Spekulationen um die mögliche Zukunft Arthurs, die der Roman offenlässt, hinterließ bei denjenigen, die den Roman nicht gelesen hatten, den Wunsch, das Lesen nachzuholen – keine Selbstverständlichkeit.

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Buchkritik Adeline Dieudonné: "Das wirkliche Leben“

Von Jägern und Gejagten
dtv Verlagsgesellschaft, 2020, 240 Seiten


Darum geht es:

Biederkeit und Tristesse liegen über der lieblos in die belgische Landschaft gesetzten Siedlung, in der Adeline Dieudonné ihren ersten Roman spielen lässt. Und im hellsten der Häuser herrschen in Wahrheit Düsternis und eine beklemmende Abwesenheit emotionaler Nähe.

Hier lebt die zehnjährige Protagonistin mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder. Sein sorglos kindliches Lachen ist so etwas wie der Klang des Lebens in dieser Welt aus sprachloser Enge. Es wird jedoch jäh erstickt durch ein tragisches Ereignis.

Fortan unternimmt die Schwester alles, um dem kleinen Gilles sein Lachen zurückzugeben. Zuerst mit kindlicher Fantasie, über die Jahre mit einem immer reifer werdenden Blick auf sich, das Leben, die Liebe. Eine Coming-of-Age-Geschichte, in der Jäger zu Gejagten werden und an deren Ende zwar kein Happy End steht, wohl aber eine Befreiung.


So klingt der Roman:
Sina de Malafosse hat als Übersetzerin des französischen Originals von Adeline Dieudonné ganze Arbeit geleistet. Bildhaft und reich an Metaphern entwickelt der Roman einen ganz eigenen Sound. Drastische Szenen familiärer Gewalt erhalten etwas beinahe Tarantino-haft Magisches. Und der Spannungsbogen hält bis zum Schluss.


Das ist unsere Meinung:
Die meisten in unserer Runde hat „Das wirkliche Leben“ gefesselt und begeistert. Einigen schien der Plot ein wenig konstruiert, die Handlung vorhersehbar und der Roman zu simpel aufgebaut. Spannend, einfühlsam und sprachlich gekonnt, so empfand hingegen das Gros des Shortlist-Zirkels die Lektüre.


Fazit:
Mit 3,7 von 5 möglichen Punkten hat „Das wirkliche Leben“ so gut abgeschnitten wie nur wenige Bücher auf der Hamburger Shortlist. Der Roman hatte auch die professionelle Kritik überzeugt. Und Adeline Dieudonné gilt seit diesem Romandebut insbesondere im französischsprachigen Raum als Shooting-Star der Literatur.

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Buchkritik Ulrich Tukur: "Ursprung der Welt“

Vergangenheitsbewältigung mit kriminellem Bogen in zwei Parallelwelten
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, 304 Seiten


Darum geht es:
Anlässlich einer Fotografie, die ihm sehr ähnlich sieht, begibt sich der Hauptprotagonist Paul Goullet im Jahr 2033 auf Recherchetour nach der Vergangenheit des Abgebildeten und seiner eigenen. Die Geschichte und letzten Lebensjahre seines „Doppelgängers“ Prosper Genoux, ein französischer Arzt, der sich in Zeiten des Zweiten Weltkriegs als Fluchthelfer gibt, erscheint Goullet in Teilen in seinen Träumen und in Zeiten von Bewusstlosigkeit. Immer wieder hat Goullet Déjà-vus und kommen ihm eigentlich nie betretene Wege und Straßen bekannt vor. Über die Pensionsinhaberin, bei der Goullet während seines Frankreichurlaubs unterkommt, erfährt er, wie sein Leben mit dem von Genoux verknüpft ist. Flankiert wird die Erzählung durch eine kurze Liebesgeschichte.


Ulrich Tukur hat einen fiktiven Roman mit historischen Bezügen und kriminalen Elementen aus der Perspektive des auktorialen Erzählers geschrieben. Seinem Nachwort kann entnommen werden, dass er historische Figuren als Vorbilder für den mordenden Arzt und den Gestapochef verwendet hat. Die Handlungen spielen in Frankreich und in Deutschland in den Jahren 2033 und 1943 (Rückblicke).


So klingt der Roman:
Der Debüt-Roman des bekannten Schauspielers und Musikers überfordert den Leser insbesondere am Anfang mit zu vielen Rückblicken, zumal nicht immer deutlich gemacht wird, in welcher Zeit der Roman gerade spielt. Dies löst sich erst auf, als klar wird, wer Genoux und Goullet sind und dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt und nicht etwa dieselbe mit anderem Namen.


Das ist unsere Meinung:
Die Sprache des Romans ist, vor allem zu Beginn des Romans, eher einfach und wird mit zahlreichen französischen Ausdrücken gespickt. Die Sätze sind dadurch schwer zu entschlüsseln.


Der Autor beschreibt viele belanglose Dinge und Selbstverständlichkeiten zu lang, sodass der Sprachstil insgesamt nicht überzeugt.


Der Spannungsbogen wird vornehmlich durch die Mordgeschichten aus der Vergangenheit in den Jahren 1943 und folgenden gehalten. Demgegenüber bleiben die angeblichen Unruhen in Europa zu unbestimmt beschrieben. Dass Goullet nicht seinen gebuchten Rückflug von Frankreich aus antreten kann, sondern nach Spanien flüchten muss, wie einst die Kriegsflüchtlinge des Zweiten Weltkriegs, wirkt konstruiert.


Auch die Hauptfigur bleibt unscharf umrissen. Von dem eigentlichen Charakter Goullets erfährt der Leser wenig. Seine Psychose bleibt für seine Mitmenschen geheim. Das Abbrennen des Hauses seiner Adoptiveltern führt nicht zu einem runden Ende der Erzählung oder der Ausarbeitung des Charakters der Figur Goullet. Vielmehr hätte der Autor ab Seite 278 auf das Ende verzichten können.


Der Autor hätte sich vermutlich besser auf den historischen Teil des Romans konzentrieren und diesen sauber recherchieren sollen.


Fazit:
Wie zahlreiche Rezensenten in der Presse bemängelten unsere Leser vor allem Stil und Sprache sowie den Aufbau der Story. Die Konstruktion wurde als mühsam und zu gewollt empfunden. Obgleich der Roman in der Zukunft spielt, ist er wenig futuristisch oder kreativ. Negativ fiel auch ins Gewicht, dass der Handlungsfaden nicht immer gut nachvollzogen werden konnte und die jeweilige Zeitschiene nicht immer kenntlich gemacht wurde.


Dies geht auch zu Lasten der Spannung, welche die kleine Detektivgeschichte um den Doppelgänger der Hauptfigur zu bieten hat. Das Thema, insbesondere das Näherbringen von Kriegsverbrechen in Frankreich und die damalige Besatzungszeit, war für einen Teil der Leser aber interessant.


Insgesamt kommt die Gruppenbewertung jedoch nicht über knappe zwei Punkte hinaus.

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Buchkritik Dror Mishani: "Drei“

Spannend, überraschend, (fast k)ein Krimi
Diogenes Verlag, Zürich 2019, 336 Seiten


Darum geht es:
Das Werk des isrealischen Autors Dror Mishani war in seine Heimatland über drei Monate auf Platz 1 der Bestsellerliste. Nun soll das Buch soll verfilmt werden: eine israelische TV-Serie sowie eine internationale Adaption der Geschichte sind bereits in Planung.


Hat es daher dieses Werk als erster Krimi jemals in unseren Literaturkreis geschafft? Vielleicht. Dabei hat der Autor selbst übrigens Zweifel geäußert, ob „Drei“ überhaupt noch ein Krimi ist. Allerdings ist die Genrefrage unerheblich, viel wichtiger ist es, dass dies ein gut geschriebener und bewegender Roman ist.


"Drei" portraitiert titelgebend drei sehr unterschiedliche Frauen aus Tel Aviv, die allesamt (zeitversetzt) eine Beziehung zu ein- und demselben Mann haben.


Zunächst erzählt Orna, wie sie als Gymnasiallehrerin allein mit ihrem neunjährigen Sohn in Tel Aviv lebt. Über ein Datingportal lernt sie Gil kennen, einen Anwalt, Anfang 40, ebenfalls geschieden mit zwei Töchtern. Gil ist leger und humorvoll, behutsam geht er auf Orna ein und gewinnt ihre Aufmerksamkeit. Während Ornas Exmann mit neuer Frau und deren vier Kindern in Kathmandu lebt, versucht Orna schließlich, sich mit Gil ein neues Leben aufzubauen.


Im zweiten Kapitel, das einige Jahre später spielt, steht Emilia im Mittelpunkt. Emilia ist eine aus Riga stammende Pflegekraft, die vor wenigen Jahren nach Israel gekommen ist. Sie pflegt und betreut Gils Vater. Als dieser stirbt, verliert sie Job und Unterkunft. Gil, in der ihm eigenen großzügig unaufdringlichen Art, stärkt ihr Selbstwertgefühl und hilft ihr, wieder Fuß zu fassen.


Im letzten Kapitel geht es um Ella. Sie hat neben zwei älteren Töchtern vor zehn Monaten noch ein drittes Kind bekommen. Um der Enge ihres Alltages zu entfliehen, hat sie sich für ein Masterstudium eingeschrieben. Nach einer längeren, kumpelhaften Annäherung an Gil entwickelt sich doch mehr.


So klingt der Roman:
Gekonnt porträtiert Dror Mishani die drei lebenshungrigen und gestressten Frauen; Empathisch und konkret beschreibt er ihre Gefühlswelten. Über die vierte Hauptfigur, Gil, erfährt man bis zuletzt sehr wenig. Das ist erklärte Absicht des Autors: Der Mann bleibt eine Projektionsfläche, über dessen Innenleben – ganz im Gegensatz zu dem der Frauen – kaum etwas nach außen dringt.


In den Kritiken zu dem Buch werden insbesondere auf zwei großen Themen hingewiesen, die wir als (deutsche) LeserInnen allerdings nur bedingt herauslesen konnten. Das ist zum Einen das Thema Diskriminierung und Machtgefüge. Gil gehört einer privilegierten Schicht an, er bzw. seine Familie stammen aus Europa ab, im Gegensatz zu den von ihm gedateten Frauen. Nur über dieses Machtgefälle, so der Autor, kann es zu den beschriebenen Verläufen kommen.


Zum anderen ist es das Thema Gewalt und Grausamkeit der israelischen Gesellschaft. Zitat Dror Mishani: "Ich glaube, ich weiß jetzt, was an Drei typisch israelisch ist: die Grausamkeit, die der Roman beschreibt. In dem Sinn, dass in einer Gesellschaft, die in einem ständigen Kriegszustand lebt, eine Normalisierung und Rationalisierung von Gewalt und Tod stattfindet. Bis hin zu dem Punkt, dass man sie gar nicht mehr als Gewalt wahrnimmt. Für mich ist Drei eine Kampfansage gegen die Normalisierung von Tod und Gewalt."


Das ist unsere Meinung:
In unserem Lesekreis wurde der Roman meist gerne gelesen: "Nicht blutrünstig, aber ging unter die Haut". Mehrheitlich wurde die Mischung zwischen Roman und Krimi als gelungen empfunden. Die Isolation und Einsamkeit der Frauen wurde als gut dargestellt und überraschend einfühlsam empfunden. Wie immer in einem Lesezirkel gab es Stimmen, die die Geschichte(n) als solche wenig interessant fanden, wohingegen andere LeserInnen ganz und gar angetan von den Beschreibungen der Lebens- und Gefühlswelten der Protagonistinnen war.


Fazit:
In unserer Buchbewertung haben die Kategorien "Handlung", "Aufbau" und "Gern gelesen" jeweils im Schnitt knapp über 4 Punkte erhalten. "Stil" und "Thema" erhielten jeweils im Schnitt gut 3 Punkte. In Summe bewertet unser Kreis das Buch mit einer positiven 3,7.

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Buchkritik Eugen Ruge: "Metropol“

Eindrücklich. Autobiografisch. Authentisch.
Rowohlt Verlag, 2019, 429 Seiten


Darum geht es:
Eugen Ruge folgt drei Menschen auf den schmalen Grat zwischen Überzeugung und Wissen, Loyalität und Gehorsam, Verdächtigung und Verrat. Ungeheuerlich ist der politische Terror der 1930er Jahre, aber mehr noch: was Menschen zu glauben imstande sind.

Nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» kehrt Eugen Ruge zurück zur Geschichte seiner Familie - in einem herausragenden zeitgeschichtlichen Roman.
Moskau, 1936. Die deutsche Kommunistin Charlotte ist der Verfolgung durch die Nationalsozialisten gerade noch entkommen. Im Spätsommer bricht sie mit ihrem Mann und der jungen Britin Jill auf zu einer mehrwöchigen Reise durch die neue Heimat Sowjetunion. Die Hitze ist überwältigend, Stalins Strände sind schmal und steinig und die Reisenden bald beherrscht von einer Spannung, die beinahe körperlich greifbar wird. Denn es verbindet sie mehr, als sich auf den ersten Blick erschließt: Sie sind Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Komintern, wo Kommunisten aller Länder beschäftigt sind. Umso schwerer wiegt, dass unter den «Volksfeinden», denen gerade in Moskau der Prozess gemacht wird, einer ist, den Lotte besser kennt, als ihr lieb sein kann
«Metropol» ist eng mit Ruges Debüt «In Zeiten des abnehmenden Lichts» verbunden, aber auch mit einem Buch seines Vaters, das zeitlich zwischen beiden Romanen steht und die Lücke ausfüllt: Zusammen mit Wolfgang Ruges «Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion» entsteht eine der wohl umfassendsten und ergreifendsten Erzählungen des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert.


So klingt der Roman:
Der Leser wechselt mit den erzählenden drei Hauptprotagonisten (Charlotte; Wassili Wassiljewitsch Ulrich, dem Vorsitzenden Richter der berüchtigten Moskauer Schauprozesse gegen führende Bolschewiki und Hilde Tal, einer lettischen Revolutionärin im Komintern-Apparat und Ex-Frau von Charlottes Mann Wilhelm) immer wieder die Perspektive und wird so in ein Wechselbad der Gefühle geworfen. Dabei nimmt Charlotte den größten Raum ein. Die drei Personen werden miteinander in Beziehung gesetzt, wie Marionetten gelenkt von der Grausamkeit der Zeit. Aufgrund der detailfreudigen Darstellung durch Eugen Ruge kann sich der Leser eindrucksvoll und immer tiefer in die Zeit des sowjetischen Terrors begeben und die Zeit und Zustände nachempfinden. Man leidet mit Charlotte, wundert sich aber auch über ihre Naivität.


Das ist unsere Meinung:
Vorweg sei erwähnt, dass wir dieses Buch das erste Mal in einer Telefonkonferenz besprochen haben. Corona zwang uns dazu, unsere heimeligen Runden im Hotel Reichshof aufzugeben.

Gleichwohl wurde auch „Metropol“ intensiv besprochen. Thematisch berührt der Roman eine bisher kaum beschriebene Zeit, die zugleich Teil der deutschen Geschichte ist: der Stalinismus und die deutschen Kommunisten.Durch die autobiografischen Züge wird das Buch sehr authentisch und ergreifend. Unsere Runde hat sich dann trotz unisono geschilderter Schwierigkeiten beim Einstieg auch sehr für das Buch, dessen Sprache und Bilder begeistern können.


Fazit:
Ein Buch, das vor allem neue Sichtweisen auf eine unbekannte Zeit eröffnet hat und niemanden kalt liess: durchweg große Begeisterung in der Bewertung – der Mittelwert von 3,9 aus 5 Punkten spricht für sich. Herausgehoben wurde dabei insbesondere das spannende Thema. Und bestätigen liess sich die Aussage des SWR2-Rezensenten: "ein Pageturner..."

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Buchkritik Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios“

Eindrücklich. Bildstark. Kontrovers.
Carl Hanser Verlag, 2019, 240 Seiten


Darum geht es:
Der Roman erzählt die Geschichte von „Little Dog“, der als Einwandererkind mit vietnamesischen Wurzeln in Hartford, Connecticut, aufwächst. Die Mutter schuftet tagein, tagaus in einem Nagelstudio und schafft es trotzdem kaum, die Familie über Wasser zu halten. Little Dog erlebt sie ausgebrannt, abwesend, auch handgreiflich.


Ganz anders die Großmutter, schwer traumatisiert aus dem Vietnamkrieg und längst in ihrer eigenen Welt zuhause. Ein Leben am Rande der Gesellschaft: Sozial isoliert, versucht „Little Dog“ zunächst, so unsichtbar zu bleiben, wie es seine Familie ihm eingeimpft hat. Sichtbar werden, auffallen, bedeutet sich Gefahren auszusetzen. Trotzdem bricht „Little Dog“ als Jugendlicher aus dem engen Korsett aus und beginnt seinen eigenen Weg.


Die Beziehung zu Trevor bedeutet für „Little Dog“ lang vermisste Geborgenheit, sexuelle Befreiung, aber auch Drogentrips. Erfahrungen, die Trevor in den Abgrund ziehen, „Little Dog“ aber einen wundersamen Weg hinaus aus dem Elend, hinein in den Kulturbetrieb der Ostküste weisen.


Ocean Vuong wählt für seinen ersten Roman die Form eines Briefes, den „Little Dog“ an seine Mutter schreibt. Ein Brief, den die Adressatin – Analphabetin, die sie ist – niemals wird lesen können. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ gerät so zu einer ungeschminkten Selbstbespiegelung des Briefeschreibers.


Anekdotenhaft, immer wieder abschweifend, mal anklagend, mal liebevoll-verständig schildert „Little Dog“ nicht nur eine Mutter-Kind-Beziehung, sondern beschreibt zugleich ein Panorama vom Rande der amerikanischen Klassengesellschaft. Der Roman ist stark autobiografisch geprägt, aber kein Tatsachenbericht.


So klingt der Roman:
Ocean Vuong hat sich in den USA schon vor der Veröffentlichung des Romans als Lyriker einen Namen gemacht (in Deutschland ist der Gedichtband „Nachthimmel mit Austrittswunden“ erst jetzt erschienen). Auch „Auf Erden sind wir kurz grandios“ kommt poetisch daher, enthält zahllose Sprachbilder und Metaphern. Zweifellos eine Herausforderung für jede Übersetzung. Ob Anne-Kristin Mittag den sprachlichen Zauber des Originals in jeder Hinsicht ins Deutsche übertragen konnte, muss leider bezweifelt werden. Wer sich die englische Fassung mit dem Titel „On Earth We’re Briefly Gorgeous“ zutraut, sollte daher lieber danach greifen.


Das ist unsere Meinung:
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ haben wir kontrovers wie selten diskutiert. Thematisch berührt der Roman spannende Fragen und nimmt einen ungewöhnlichen Blickwinkel ein. Die Art und Weise, in der Ocean Vuong diese Themen in seinem Roman verarbeitet, hat unsere Runde indes gespalten. Insbesondere die kunstfertige (oder doch gekünstelte?) Sprache und die assoziative (oder doch einfach unstrukturierte?) Gedankenführung haben bei einigen die Lesefreude getrübt.


Fazit:
Ein Buch, das polarisiert und niemanden kalt lässt: Große Begeisterung auf der einen, schroffste Ablehnung auf der anderen Seite – der Mittelwert unserer Bewertungen von 2,8 aus 5 Punkten ist in diesem Falle kein echter Gradmesser. Lieber erst ein paar Zeilen lesen, bevor man zum Kauf schreitet! Wer sich dann schon gefesselt fühlt, wird den Roman lieben – ansonsten gilt: besser weiterstöbern...

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Buchkritik John Ironmonger: "Der Wal und das Ende der Welt“

Einfach, schlicht, vorhersehbar
S.Fischer, 2019, 477 Seiten


Roman:
Erst wird ein junger Mann angespült und dann strandet ein Wal an der Küste des kleinen Dorfes St. Piran in Cornwall. Joe Haak, ein Broker ist aus London geflohen, wo er einen Aktienkollaps in Gang gesetzt hat. Im Dorf wird Haak zum Helden. Nachdem der Ausbruch einer tödlichen Epidemie das ganze Land lähmt und zum Zusammenbruch des Wirtschafts- und Versorgungssystems führt organisiert Haak erfolgreich die Versorgung des Dorfes mit Lebensmitteln.


Die Geschichte:
John Ironmonger ist durch die biblische Geschichte von Jonas und dem Walfisch, John Hobbes „Leviathan“ und das Sachbuch „Kollaps“ zu dem vorliegenden Roman inspiriert worden.
Was setzt sich durch? Ist es der Egoismus (homo homini lupus) oder ist der Staat ein Erzeugnis des Menschen, das er selbst entwirft? (homo homini deus)
Wie geht eine Gesellschaft im Kleinen und Großen mit den extremen Folgen einer Epidemie um? Angesichts des Corona-Virus ist das durchaus interessant zu lesen.


Bewertung:
Die Shortlist-Gruppe fand das Buch allerdings mehrheitlich schlicht geschrieben und das Zusammenleben der Bewohner des Dorfes einfach und vorhersehbar dargestellt. Die Idee der Geschichte fanden wir interessant, aber nicht tragend für ein ganzes Buch. Die Abstimmung ergab daher auch nur eine Wertung von 2,5 Punkten auf einer Skala von 1 bis 5 (bester Wert)   

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Buchkritik Annette Hess: "Deutsches Haus“

368 Seiten, Ullstein Verlag, Berlin 2018
Spannende 60er Jahre Themen, sprachlich einfach verpackt


Die Idee:
Der erste Auschwitzprozess, der Ende 1963 in Frankfurt begann und bis 1965 andauerte, verändert das Leben der Hauptprotagonistin Eva Bruhns. Sie muss in diesem Gerichtsverfahren die Aussagen der polnischen Zeugen übersetzen und am Ortstermin in Auschwitz teilnehmen. Herausgerissen aus der von ihren Eltern aufgebauten Idylle, die einen dörflichen Gasthof betreiben, erfährt Eva im Laufe der Handlung die Wahrheit über ihre Kindheit, die damalige Arbeit ihres Vaters und die Geheimnisse ihrer älteren Schwester sowie ihres angehenden Verlobten.
Insbesondere innerhalb der Beziehung zu ihm, der ebenso wie ihre Eltern gegen ihre Mitarbeit im Jahrhundertprozess ist, emanzipiert sich die brave Eva und nabelt sich letztlich auch von ihrer Familie ab.


Annette Hess hat einen historischen, fiktiven Roman aus der personalen Erzählperspektive – der der Eva Bruhns – geschrieben. Sie macht damit auch darauf aufmerksam, wie die Kriegsgeschehnisse bei den Betroffen nachwirken und welche Form der Verantwortung sie bereit sind zu übernehmen.


Vom – mittlerweile als Nazi-Jäger bezeichneten – Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, als deutscher Jude selbst ehemaliger KZ-Häftling, gingen die Anklagen gegen insgesamt 21 Männer, größtenteils zur Funktionsebene der führenden SS-Belegschaft des von 1940 bis 1945 bestehenden Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gehörend, aus. Ihm stellt Annette Hess einen überengagierten Rechtsreferendar, David Miller, zur Seite.


Zu viele Nebenstränge und Zufälligkeiten
Annette Hess ist eine preisgekrönte Drehbuchautorin, u.a. von den TV-Serien „Wannensee“, „Ku’damm ‘56“ und „Ku’damm ‘59“. Leider schafft sie immer wieder Nebenfiguren und –stränge, und lässt sie jedoch ebenso schnell wieder aus der Geschichte verschwinden wie sie entwickelt wurden. So wird die Aussage des ersten polnischen Zeugen Cohn sehr emotional beschrieben, endet umgehend danach aber mit dem Selbstmord des Zeugen.
Die Figur David Miller, der zunächst eine – tatsächlich nicht existente – KZ-Vergangenheit vorgibt, fällt aus der eigentlichen Geschichte heraus und bringt diese nicht voran. Soweit die Autorin damit – wie in einigen Rezensionen zu lesen ist – ausdrücken wollte, dass jeder Jude an Ausschwitz leide, hätte dies vielleicht mit effektiveren und leichteren Mitteln geschehen können. Eine Liebesnacht auf dem Gelände des ehemaligen KZ mit der Hauptprotagonistin bringt einem diese Schlussfolgerung nicht näher.
Die Infizierung von frisch geborenen Säuglingen durch Evas Schwester im Krankenhaus und eine zur Tötung führende Körperverletzung eines mit dem Fallschirm abstürzenden Amerikaners durch Evas Verlobten Jürgen haben selber gar keinen Bezug zum Auschwitzprozess. Dass Eva zufällig auf wichtige Zeugen wie Cohn trifft, wirkt sehr konstruiert. Das gilt auch für das symbolhafte kleine rote Paket des heiligen Königs der Weihnachtspyramide, das jahrelang verschwunden war, im Ortstermin jedoch wieder zutage tritt. Die Romanfiguren sind letztlich zum Teil zu schablonenhaft dargestellt und stark überzeichnet.


Immerhin ist der Plot spannend und ohne größere Längen gestaltet. Er erinnert dabei eher an ein Drehbuch als an einen Roman und ist rein chronologisch aufgebaut.
Eine Atmosphäre aufzubauen, gelingt der Autorin nicht immer. Der Roman ist nicht in besonderer literarischer Weise geschrieben. Das Buch ließ sich leicht lesen, bot sprachlich allerdings kaum Tiefgang. Die Wortwahl ist vergleichsweise einfach; Vergleiche und Metaphern werden zu wenig verwendet oder sind fehl am Platz.


Bewertung
Das Thema war fast allen LeserInnen wichtig, doch die Schwächen des Buches fielen zu sehr auf. Die Figuren wirken um den historischen Gerichtsprozess herum konstruiert. Gewürdigt wurde in unserem Kreis, dass die Autorin die Denkweise der 60er Jahre, insbesondere auch bezüglich des damaligen Frauenbildes, traf und auch die „Verdrängungstaktik“ hinsichtlich der NS-Greueltaten glaubhaft wiedergab.
Insgesamt erhielt das Buch daher 3 Punkte in der Gesamtbewertung. Thema und die aufgebaute Spannung wurden am besten bewertet, mit bis zu 5 Punkten in der Einzelnote.

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Buchkritik Daniela Krien: "Die Liebe im Ernstfall“

Unterhaltsam ohne großen Erkenntnisgewinn
Diogenes, 288 Seiten, 2018


Inhalt:
„Sie heißen Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Sie kennen sich, weil das Schicksal ihre Lebenslinien überkreuzte. Als Kinder und Jugendliche erlebten sie den Fall der Mauer, und wo vorher Grenzen und Beschränkungen waren, ist nun die Freiheit. Doch Freiheit, müssen sie erkennen, ist nur eine andere Form von Zwang: der Zwang zu wählen. Fünf Frauen, die das Leben aus dem Vollen schöpfen. Fünf Frauen, die das Leben beugt, aber keinesfalls bricht."


Aufgrund dieses Klappentextes und der überaus positiven Rezensionen des Buches „Liebe im Ernstfall“ von Daniela Krien erwarteten wir ein Buch voller „Authentizität und Anschlussfähigkeit... ein gelungenes Zeugnis über die derzeitige Mentalität von selbstständigen Frauen im Osten“. Das jedenfalls verspricht uns der Perlentaucher.


Bewertung
Gefunden haben wir ein Buch, das wir in Summe zwar leichtgängig, aber ohne großen Erkenntnisgewinn gelesen haben. Die porträtierten Frauen entwickeln sich in ihren jeweiligen Krisen nicht wirklich weiter, die fünf Geschichten der Protagonistinnen überlappen sich zwar in wenigen Momenten, haben aber inhaltlich keinerlei Bezug zueinander. Die Lebensentwürfe aller Frauen beinhalten Kinder und Mann zum Glücklich sein – all das fanden wir eher befremdlich.


Das unschöne Prädikat „Brigitte-Literatur“ fiel bei uns in der Diskussion wiederholt. Nichtsdestotrotz beinhaltet diese Prädikat eben auch, dass Stil und Sprache angenehm unprätentiös sind und das Buch einigermaßen unterhaltsam und leicht zu lesen ist. Und so kamen wir in Summe auch auf eine freundlich-indifferente 3,1 als Gesamtnote.

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Buchkritik Monica Sabolo: "Summer“

Mysteröse, spannende Familiengeschichte
Insel Verlag, 2018, 253 Seiten


Inhalt:
In Rückblicken erzählt die italienische Autorin Monica Sabolo das Leben des heute 38jährigen Benjamin Wassner. Dieses ist geprägt durch ein Erlebnis in der Jugend, das Verschwinden seiner Schwester Summer kurz nach ihrem 18. Geburtstag. Damit erstirbt nicht nur das sorglose Familienleben der wohlhabenden Anwaltsfamilie am Genfer See. Benjamin wird zum Außenseiter, kämpft sich mit falschen Freunden durch die Schulzeit. Jetzt ist er in Therapie. Der mittlerweile erfolgreiche Banker leidet seit vier Monaten unter Panikattacken - und er will dem Geheimnis von Summers Verschwinden endlich auf den Grund gehen.


Stil und Sprache:
Sind Benjamins verzerrte Beschreibungen Auswuchs seiner Verstörtheit oder sprachlich missglückte Bilder? Darüber waren wir uns in der Runde nicht ganz einig. In jedem Fall sind sie irritierend. „Ich möchte am liebsten durchs Fenster steigen, in diese Wolke eintauchen und in ihr aufgehen." "Die Tiefgarage, die mir wie eine Höhle vorkommt, in der ich den ganzen Sommer verbringen könnte..." Als hätte ich eine Aschewolke eingeatmet, die sich auf meine Lunge setzt".


Spannung:
Die Geschichte fängt zügig an, verliert sich dann aber im Mittelteil in Nebenschauplätzen. Erst zum Schluß nimmt die Erzählung wieder Fahrt auf, als der Erzähler zu begreifen beginnt, was vor 24 Jahren wirklich geschah. Das überraschende Ende lässt ganz unterschiedliche Interpretationen zu und sorgte daher in unserer Runde auch für eine sehr spannende Diskussion.


Bewertung:
Trotz einiger Längen und des eigenwilligen Stils haben die meisten der Gruppe den Roman gerne gelesen und in Summe mit 3,1 von 5 möglichen Punkten bewertet.

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Buchkritik Nell Zink: "Virginia“

Satirisch, unpsychologisch, provokant
Rowohlt Verlag 2019, 320 Seiten


Die Geschichte:
Die androgyne Peggy studiert an einem Frauencollege im Virginia der 1960er Jahre und interessiert sich eigentlich für Frauen und Literatur, als ihr homosexueller Lyrikdozent Lee eine Affäre mit ihr beginnt. Die daraus entstehende Schwangerschaft zwingt die beiden zur Heirat. Ein abgebrochenes Studium, zehn Jahre und zwei Kinder später hält die chronisch betrogene Peggy es nicht mehr aus und taucht abrupt mitsamt ihrer kleinen Tochter Mickie unter. Sohn Byrdie bleibt bei Lee und wird in der typischen Mentalität und mit den typischen Insignien des Südstaaten-Landadels erzogen – ganz der Herkunft seines Vaters entsprechend.

Peggy besetzt indes ein leerstehendes, baufälliges Haus und ernährt sich von abstrusen Jobs. Die Erziehung ihrer Tochter finanziert sie durch einen makaberen Kniff: Mickie nimmt die Identität eines verstorbenen schwarzen Mädchens an und kommt in den Genuss verschiedener Förderungen im Zuge der gerade aufgehobenen Rassentrennung. Doch als beide Kinder schließlich aufs College gehen, kommt es zu einem Wiedersehen der Familie unter –natürlich - absurden Umständen.


Stil und Sprache:
Manch einem war die Sprache zu schlicht und stakkatohaft, andere fanden den amerikanischen Stil ohne viele Schachtelsätze erfreulich leserfreundlich. Die Übersetzung vieler faszinierender Aphorismen ins Deutsche (Michael Kellner) wirkt indes außerordentlich gelungen.


Plot & Dramaturgie:
In der Idee hochinteressant und spritzig, waren wir von der Umsetzung umso mehr enttäuscht, je weiter die Handlung voranschritt: Der Roman hätte mehr Ausschmückung und Hindernisläufe vertragen. Beim Ende waren sich einige nicht sicher, ob es der beißenden Satire von „Virginia“ nun die Krone aufsetzen sollte oder der Kitsch ein Versehen der Autorin darstellt.
Gelacht wurde indes häufiger, die Lesbarkeit ließ nicht zu wünschen übrig.


Bewertung:
Nell Zink ist eine amerikanische Spätzünderin der Literatur mit extravaganter Biographie. Sie lässt eigene Erfahrungen aus dem Virginia ihrer Kindheit zum provokanten Beitrag zur zeitgenössischen Gender- und Herkunftsdebatte geraten.
Eine Realsatire als Roman, ein Roman als Realsatire? Ob man als Deutscher die Absurdität der US-amerikanischen Gender- und Rassenverhältnisse jemals so recht fassen kann, blieb in unserer Runde offen. Die durchschnittliche Bewertung von 3,1 (max. 5,0) bestätigte dies. Amüsiert hat der Roman dabei allemal!

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Buchkritik Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens“

Autobiographische, bedrückende Missbrauchsgeschichte
Suhrkamp, 2018, 163 Seiten


Das Buch:
Bei Erinnerung eines Mädchens handelt es sich um ein autobiographisches Werk. Die Schriftstellerin Annie Ernaux, geborene Duchesne, thematisiert ihr widerfahrene wiederholte sexuelle Nötigung in der späten Jugend und deren Folgen. Insofern handelt es sich um ein weiteres Stück „Erinnerungsarbeit“ im autobiographisch geprägten Oeuvre der Autorin.
Im Sommer 1958 arbeitet Annie, die aus einfachen Verhältnissen und einem katholischen Elternhaus stammt, als Kinderbetreuerin in einer Ferienkolonie in Nordfrankreich. Sie ist die jüngste Betreuerin und versucht Anschluss zu finden. Eines Abends wird sie von H, dem „Chefbetreuer“, sexuell genötigt. Sie ist von ihm fasziniert, aber es geht ihr alles viel zu schnell; er missbraucht seine Position. Nach dieser Nacht ist sie verfemt, hat einen schlechten Ruf, wird gemobbt und ausgegrenzt. Eine Erfahrung, die Annies gesamtes weiteres Leben prägen wird und mitursächlich für eine spätere Bulimie sein dürfte.


Stil & Sprache:
Während Annie Ernaux in ihrem Werk Die Jahre den Versuch einer unpersönlichen, kollektiven Biographie unternommen hat, stellt Erinnerung eines Mädchens das literarisierte Ringen mit einem biographischen Zentralereignis dar. Dieses Ringen drückt sich auch in der – sehr bewusst – gewählten Sprache aus. Das Ringen nach Worten, der Versuch, das Unverständliche verständlich zu machen, durch Literarisierung dem Vergessen zu entkommen, durch die Spaltung des Ichs in ein Jetzt-Ich und ein Damals-Ich die Scham und den Schmerz ertragbar zu machen – für all dies findet Ernaux kunstvolle sprachliche Lösungen. Die Betroffenheit, die man als Leserin/Leser verspürt, entsteht indes nicht aus Effekthascherei oder Emotionalisierung.


Weitere Themen des Buchs:
Erinnerung eines Mädchens ist allerdings nicht allein die autobiographische Aufarbeitung einer aversen, tief prägenden Erfahrung und deren psychischen, sozialen und biographischen Folgen, sondern auch ein kompaktes Sittengemälde Frankreichs der 1950er-Jahre. Das Buch macht die herrschenden Geschlechterrollen, Wertevorstellungen, aber auch allgemein den kulturellen Kontext „greifbar“.


Bewertung:
Erinnerung eines Mädchens wurde von uns verhältnismäßig kontrovers diskutiert und bewertet. Auffällig ist, dass über die Hälfte der Versammelten das Buch nicht gerne oder eher nicht gerne gelesen haben, teils darin begründet, dass sie das Buch persönlich berührt habe, aber auch in der spannungs- und handlungsarmen Geschichte. Leicht überdurchschnittlich wurde der Stil beziehungsweise die Sprache Ernaux‘ bewertet. Teilweise längere, komplizierte Satzkonstruktionen wurden nicht als störend, sondern mehr als Stilmittel gesehen. Als „spannend“ wurde die Lektüre nur selten bezeichnet, wohl darin begründet, dass es sich um ein Stück autobiographischer Literatur handelt und zentrale Ereignisse bereits recht früh antizipiert werden. Gelobt wurde das Greifbarmachen des Schamgefühls Ernaux‘ und ihr Porträt der französischen Gesellschaft der 1950er-Jahre. Insgesamt wurde das Buch im Durchschnitt mit 2,7 von maximal 5,0 zu erreichenden Punkten bewertet und liegt damit im Mittelfeld (Range: 1,6 bis 3,9 Punkte).

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Buchkritik Maria Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten“

Leicht historisch, stark atmosphärisch, zu experimentell
S. Fischer Verlag 2018, 598 Seiten


Die Geschichte:
In das Argentinien der 1970er Jahre kehrt unter Jubel eine lang exilierte Legende zurück: der linksgerichtete General und Politiker Juan Peron. Nach erster Amtszeit in den 1940ern vom Militär weggeputscht, wird er kurz vor seinem Tod 1974 erneut ins Präsidentenamt gewählt. Die Argentinier erhoffen sich einen Aufbruch in bessere Zeiten. Mit seinem Tod beginnt eine neue Militärdiktatur unter seiner Frau, (zuvor Vize-)Präsidentin Isabel Peron, die lediglich eine Marionette der alten Militäroligarchie gewesen sein soll. Diese Ereignisse bilden die Kulisse von „Nachtleuchten“, welches erklärtermaßen keine Geschichtsstunde sondern ein atmosphärisches Bild dieser bewegten Monate sein soll.


In gehobener Wohnlage von Buenos Aires – in Ballester – wuchs die Autorin auf. Dort spielen sich die drei Abschnitte des Romans ab.


Der erste Teil dreht sich um die präpubertäre Teresa, die aus ihrer gehobenen Mittelschichtsfamilie und ihrer katholischen Schule heraus in ihre Nachbarschaft geht, um Jesus zu den Menschen zu bringen, und zwar in Form einer fluoreszierenden Muttergottesstatuette. Tatsächlich erschüttert eine linksgerichtete Bewegung in den 1970ern das christlich-militärische Establishment Südamerikas, indem christliche mit sozialistischen Ideen verbunden werden. Teresas erwachsenes Pendant ist die neue Ordensschwester Maria, die sich mit dem politisch aktiven Jungpfarrer und auf dem Roller herumtreibt, anstatt im Kloster zu bleiben, wie es sich gehört. Leider hat Maria eine politisch noch unliebsamere Zwillingsschwester, mit der sie verwechselt und deswegen aus dem Weg geräumt wird. Ihr mysteriöses Verschwinden erzeugt allerlei abstruse Fantasien bei Teresa und ihren Freundinnen.


Im zweiten Teil werden die Mitarbeiter einer Autowerkstatt und der Inhaber eines Friseursalons porträtiert. Zwischen literarischen Ambitionen, Verstrickungen mit Sportwagenfahrenden „desperate Housewives“, Evita-Peron-Kult und spiritistischer Akademie mäandert die Handlung dahin.


Im dritten Teil schließlich geht es um eine Clique von Jungen, die unter der Führung eines wohlstandsverwahrlosten, hochbegabten vierzehnjährigen Gourmets einen vermeintlichen Katzenmassenmord und die Fluoreszenz der Muttergottesstatuette auf- bzw. erklärt.
Am Schluss deutet sich die Bekehrung Teresas vom Katholizismus zum naturwissenschaftlichen Positivismus an, während am Rande eine diffuse Paranoia aufgrund der wiedergekehrten Militärdiktatur immer deutlicher wird.


Stil und Sprache:
Die meisten von uns hielten den Stil für aufgesetzt, überbordend, exaltiert und geschraubt. Zieht man in Betracht, dass die Autorin keine Muttersprachlerin ist, den Roman aber dennoch auf Deutsch geschrieben hat, lässt sich einiges verzeihen. Die sich gerade zum Ende hin häufenden sprachlich und optisch experimentellen Teile sollen wahrscheinlich den Inhalt im Formalen spiegeln, tun dem Roman aber unserer Meinung nach keinen Gefallen.
Einzig das Schlusskapitel über den (vielleicht symbolisch angehauchten?) Fall und das Zerbersten der Muttergottesstatuette ist ein poetisches und ausnahmsweise gekonnt experimentelles Highlight, bis zu dem sich aber nur die wenigsten vorarbeiten konnten.


Plot & Dramaturgie:
Zu viele lose Enden im Plot, zu viele abziehbildartige Figuren bis hin zum auf die Spitze getriebenen Klischee des hysterisch anmutenden, homosexuellen Friseurs. Der Handlung zu folgen, strengte viele von uns so an, dass sie schon nach dem ersten Teil aufgaben. Wir ließen uns aus den Kritiken und vom Verlag belehren, es sei weniger um den Plot, sondern mehr um die vielbeschworene Atmosphäre gegangen. Diese wiederum erinnert stark ein einen verrückten, zusammengewürfelten, schwer verstehbaren Rausch aus Versatzstücken.


Bewertung:
Obgleich von den meisten Medien hoch gelobt und auf die Shortlist des deutschen Buchpreises 2018 katapultiert, fiel der Roman bei uns durch. Die durchschnittliche Note lag bei 2,5. Denn: Die Mehrheit fand den Roman unlesbar.

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Buchkritik Stephan Thome: "Gott der Barbaren“

historisch, schwergewichtig, komplex
Suhrkamp, 2018, 719 Seiten


Die Geschichte:

Im China der 1860er Jahre trifft der britische Sonderbotschafter Lord Elgin auf eine fremde Welt, die er im Namen der britischen Krone für den Opiumhandel öffnen soll – ob der Kaiser von China nun will oder nicht. Die chinesische Regierung leistet passiven Widerstand, und so bereitet er den Militärschlag vor.


Zerrissen zwischen politischer Pflicht und ethischen Fragen verliert er sich in gedanklichen Nebenschauplätzen. Warum ist sein Attaché Maddox so ein furchtbarer Streber, und was geschah wirklich mit den gebundenen Füßen der Chinesinnen?


Auch der chinesische General Zeng Guofan tut, was er tun muss, um die parallel stattfindende, parachristliche Taiping-Revolution in China aufzuhalten, träumt aber indes vom ruhigen Gelehrtenleben. Seine konfuzianischen Tugenden gegenüber seiner Familie hat er schlecht erfüllt, und auch sein Protegé Li Hongzhang tanzt ihm auf der Nase herum, statt demütig Aufsätze über seine eigenen Schwächen zu verfassen.


Die Taiping-Revolutionäre wollen ganz Schluss machen mit Konfuzianismus, mit Ahnenverehrung, mit der Korruption im alten Beamtenstaat China. Sie wollen eine Bodenreform zugunsten der in Armut lebenden Massen durchsetzen. Ihre Ideen haben sich von denen der pietistischen Missionare, die sie mit dem Christentum bekannt gemacht haben, schon weit entfernt.


Inmitten des Bürgerkriegs zwischen kaiserlichen Truppen und Taiping-Revolutionären sucht Philipp Johann Neukamp, Missionar, Zweifler und Abenteurer, sein Glück.


Stil & Sprache:

In unkomplizierter Sprache lädt Thome den Leser ein, dem umso komplexeren Plot zu folgen. Er spart dabei nicht an inneren Monologen, Dialogen und Originaldokumenten wie etwa historischen Zeitungsartikeln und Parlamentsreden.


Plot & Dramaturgie:

Nicht chronologisch und in den oben genannten vier Plots entfaltet Thome seinen Roman. Berührungspunkte gibt es zwischen den Plots nur, was die Historie betrifft. Bis auf eine Ausnahme führt der Autor aber die handelnden Personen nicht zusammen. Missionar Philipp ist die einzige Figur, die kein echtes historisches Vorbild hat.


Bewertung:

Die durchschnittliche Bewertung von 3,8 repräsentiert nicht unser Qualitätsurteil: Nur wenige von uns lasen den ambitionierten Roman überhaupt zu Ende.


Schuld trugen Längen im Mittelteil, Zerfaserung des Plots in rein episodische Fäden und Handelnde, die uns nicht recht ans Herz wachsen wollten. So störten dann die brutalen Kriegsszenen nur diejenigen, die überhaupt bis zu ihnen vorzudringen vermochten. Die fühlten sich dafür aber mit enormem Wissen nicht nur über eine fremde Kultur, sondern auch über eine hierzulande kaum bekannte humanitäre Katastrophe bereichert.


Thome bedient sich am Fundus seines Stammberufs als Sinologe. Dem schwergewichtigen Sujet hätte es gut getan - gegen den literarischen Trend - keinen fiktionalen Helden hinzuzufügen.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Fernando Aramburu: "Patria“

Spannend, aufwühlend, brillant erzählt
Rowohlt Verlag 2018, 907 Seiten


Thema:


2011 gibt die ETA des Endes des bewaffneten Kampfes bekannt. Doch für die Bewohner eines kleinen Dorfes im spanischen Baskenland ist kein Friede in Sicht. Anhand der Geschichte zweier Familien lotet der Autor im Verlauf von 125 kurzen Kapiteln, die allesamt einen Titel tragen, das Verhältnis von Opfern und Tätern aus. Fernando Aramburu ist selbst Baske, lebt aber schon seit über 30 Jahren in Deutschland. In Spanien erschien Patria bereits 2016.


Inhalt:


Bittori – eine der neun Hauptfiguren des Romans- sitzt am Grab ihres Mannes Txato, der vor über zwanzig Jahren von Terroristen der Terrororganisation erschossen wurde, da er vermeintlich die ‚Revolutionssteuer` schuldig blieb. Die von der ETA so genannte ‚Revolutionssteuer‘ ist die Haupteinnahmequelle der Terrororganisation. Ihre Opfer sind vor allem baskische Großindustrielle und Großunternehmer. Bittori erzählt ihm, dass sie beschlossen hat, in das Haus, in dem sie wohnten, zurückzukehren. Denn sie will herausfinden, was damals wirklich geschehen ist, und wieder unter denen leben, die einst schweigend zugesehen hatten, wie ihre Familie ausgegrenzt wurde. Das Auftauchen von Bittori beendet schlagartig die vermeintliche Ruhe im Dorf. Vor allem die Nachbarin Miren, damals ihre beste Freundin, heute Mutter eines Sohnes, der als Terrorist in Haft sitzt, zeigt sich alarmiert. Dass Mirens Sohn etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hat, ist Bittoris schlimmste Befürchtung. Die beiden Frauen gehen sich aus dem Weg, doch irgendwann lässt sich die lange erwartete Begegnung nicht mehr vermeiden und es kommt zu ersten Annäherungsversuchen.
Doch nicht nur die Mütter stehen im Fokus, auch deren Kinder und deren Lebensgeschichten gewinnen Kontur in diesem Roman.


Bewertung:


Wohl lange nicht wurde in unserem Literaturkreis ein Roman so überaus gut besprochen wie Patria. Er erhielt in der durchschnittlichen Gesamtbewertung 4,4!


Die Mehrzahl der Lesenden gab dem Roman die Höchstnote für Dramaturgie und Spannung, auch die facettenreiche und glaubwürdige Charakterisierung der einzelnen Figuren wurde von fast allen gelobt. Darüber hinaus wurden auch Stil und die recht schmucklose, auf Metaphern weitgehend verzichtende, lakonische Sprache mit überwiegend positiv bewertet. Interessant ist der stetige Wechsel der Erzählperspektiven, die dem Erzählten zusätzliche Dimensionen verleiht. Abgesehen davon stieß aber auch das Thema auf großes Interesse. Ein überaus lesenswertes Buch!

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Abb. © Verlag
Buchkritik João Tordo: "Die zufällige Biographie einer Liebe“

Komplex, melancholisch, schicksalshaft
Droemer, 2017, 391 Seiten


Inhalt:


Die Gegenwartshandlung des Romans spielt offenbar in etwa zur Zeit des Erscheinens der portugiesischen Originalfassung (2014).

Der Ich-Erzähler, ein Dozent für englische Literatur im spanisch-galizischen Santiago de Compostela, lernt im nahen Pontevedra einen jungen mexikanischen Dichter, Miguel Saldaña París, kennen. Die beiden freunden sich an. Im Laufe der nächsten Monate erfährt der Ich-Erzähler immer mehr über das bewegte Leben seines Freundes, bis dieser ihn eines Tages bittet, ein Manuskript an seiner statt zu lesen, welches vermeintlich von seiner vor etwa einem Jahr in Galizien verstorbenen Ehefrau, Teresa geb. de Sousa, welche ihn vor sieben Jahren urplötzlich verließ (ohne dass sie sich hätten scheiden lassen), verfasst wurde. Er selbst brächte es nicht über sich, ihre Zeilen zu lesen.

Der Ich-Erzähler willigt ein und deckt im weiteren Verlauf der Geschichte zahlreiche dunkle Geheimnisse aus dem Leben von Miguel und Teresa auf. Nach einem schrecklichen Vorkommnis macht sich der Ich-Erzähler schließlich auf, um die letzten „dunklen Flecken“ der beiden zu erhellen. Ein Vorhaben, dass ihn u.a. nach London, Kanada und Lissabon führen wird …


Thema und Sprache:


Neben der zentralen Liebesgeschichte zwischen Miguel und Teresa spielt die Freundschaft zwischen dem Ich-Erzähler und dem mexikanischen Dichter eine wichtige Rolle.

Eine Freundschaft, die bei aller Intensität auch äußerst konfliktgeladen ist und schließlich in eine Katastrophe zu führen droht.

Auf den zweiten Blick fällt auf, dass Tordo insbesondere dem Konzept der Melancholie viel Raum widmet; es darf vermutet werden, dass er diesen Begriff synonym oder doch wenigstens eng verwandt mit dem im Portugiesischen Sprachraum sehr verbreiteten Begriff der saudade (in etwa: Weltschmerz, sanfte Melancholie) verwendet. Ein zentrales Thema in der zweiten Hälfte des Romans ist die „Übernahme“ bzw. der „Übergang“ der Melancholie Saldaña París‘ auf den Ich-Erzähler. Das Motiv der verlorenen Liebe knüpft thematisch stark an das saudade-Konzept an.


Aufbau und Dramaturgie:


Tordo nutzt zahlreiche Textformate, um die Biographien Miguels und Teresas darzustellen, u.a. klassisch-literarisches Erzählen, (fiktiv) autobiographische Manuskripte, Interviews u.a. Überdies arbeitet er mit zahlreichen Rückblenden, die durch den Ich-Erzähler in der Gegenwartshandlung gewissermaßen „zusammengehalten“ werden.

Auffällig ist, dass zahlreiche Informationen in Gesprächen mit Bekannten Miguels/Teresas gegeben, man könnte auch sagen: aus der Nase gezogen, werden, wodurch einige Teilnehmer das Gefühl hatten, dass dem Roman jener „Sog“ abhanden kommt, der oft entsteht, wenn weniger berichtet, als (subtil) „gezeigt“ wird (i. S. d. „show, don’t tell!“). Die Handlung ist nicht strengchronologisch aufgebaut, steuert allerdings zielstrebig auf die Aufdeckung eines düsteren Geheimnisses aus Teresas Leben hin.


Bewertung:


Die Bewertungen fielen gemischt aus, wobei im Schnitt 2,3 von maximal 5 Punkten vergeben wurden (Range: 1,0-3,4). Bemängelt wurden von einzelnen Teilnehmern u.a. fehlende Emotionalität der Darstellung, „Hyperkonstruktion“ der Geschichte sowie wiederholte, als störend empfundene metafiktionale Exkurse Tordos/des Ich-Erzählers.

Positiv bewertet wurde unter anderem häufig die poetische Sprache bzw. der Stil Tordos sowie die Spannung, die sich aus der Rekonstruktion der Biographie(n) ergibt sowie die Darstellung/Charakterisierung Teresas.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Ayelet Gundar-Goshen: "Lügnerin“

Kaleidoskop der Lügen-Arten in postfaktischen Zeiten
Kein & Aber, 2017, 336 Seiten


Lügnerin ist der dritte Roman der 1982 geborenen israelischen Autorin und spielt in Tel Aviv.


Die Geschichte handelt von der 17-jährigen Nuphar, einem unauffälligen junges Mädchen, das von dem Wunsch beseelt ist, gesehen zu werden. Sie steht im Schatten der jüngeren, attraktiveren Schwester.

Nuphar arbeitet in ihren Schulferien in einer Eisdiele, die eines Tages von einem missgestimmten, ehemaligen Schlagersternchen, Avischai Milner, betreten wird. Der erzürnt sich über eine sprachliche Korrektur von Seiten der jungen Verkäuferin. Er wird verbal derart ausfallend, dass das Mädchen in den Innenhof flieht. Der Promi folgt ihr fluchend, wird dann aber von dem Schrei des Mädchens in die Flucht geschlagen. Als sich eine Soldatin nähert und Nuphar fragt, ob Milner sie sexuell belästigt habe, bejaht sie dieses. Daraufhin steigen alle Medien auf diese Nachricht ein. Nuphar wandelt sich vom ‚hässlichen Entlein‘ zur Medienprinzessin, die es aufgrund dieser Lüge endlich schafft, gesehen zu werden. Auch im weiteren Verlauf der Handlung, trotz gewisser Skrupel angesichts des Unrechts, das dem ehemaligen Medienstar angetan wird, wird die Lüge aufrecht gehalten.


Doch dies ist nicht die einzige Lüge, die den Roman dominiert. Auch eine Vielzahl anderer Personen um die Protagonistin herum haben ihre eigenen Lügengeschichten. Im zweiten Teil des Romans wird eine weitere Person eingeführt: Raymonde, die, um ihrer Einsamkeit zu entfliehen, gar zur Lüge greift, in einem Konzentrationslager eingesessen zu haben. Nuphar begegnet der alten Dame auf einer Klassenreise nach Polen.


Themen des Romans:

Die Autorin widmet sich dem Thema der Lüge in einer Vielzahl von Ausprägungen. Anzumerken ist aber, dass sie dies nicht moralisierend mit erhobenem Zeigefinger tut. Letztendlich verleiht sie dem vordergründig Verurteilungswürdigen einen menschlichen Anstrich. Sie trifft in unserem postfaktischen Zeitalter einen wichtigen Kern, dass es nämlich keine Gewissheiten mehr gibt. Im Schlusskapitel des Romans weitet sich denn auch der Horizont der Handlung. Die Lüge greift über in die Welt der Nachrichten und Geheimdienste.


Stil und Sprache:

An Stil und Sprache entbrannte in unserer Gruppe die Diskussion über die Rolle von Übersetzungen. Viele Vergleiche und Metaphern wurden als derart hanebüchen beurteilt, dass wir dieses auf Übersetzungsschwierigkeiten zurückführten. An vielen Stellen des Romans erschien uns die Sprache sehr ungelenk und zum Teil unpassend.


Bewertung:

Lediglich 2,45 von 5 Punkten erreichte der Roman in der Gesamtwertung. Neben der oben genannten Kritik zur Sprache wurde kritisch angemerkt, dass keine der Figuren wirklich ausgearbeitet scheint und insbesondere die Einbeziehung der Figur der Raymonde mit ihrer erfundenen Zeitzeugenschaft den Roman überfrachtet.

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Buchkritik Robert Menasse: "Die Hauptstadt“

Politisch, intelligent, spannend
Suhrkamp, 459 Seiten,


Es geht um Politik, um die EU-Kommission, um deren Mitarbeiter und vor allem um die europäische Idee. Mit seinem pointierten und unterhaltsamen Gesellschaftsroman gewann der österreichische Autor Robert Menasse den Deutschen Buchpreis 2017.


Die Hauptstadt sei ein “vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existenzielle Fragen des Privaten und Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt“ begründet die Jury ihre Wahl. Menasse mache klar, „dass die Ökonomie allein uns keine friedliche Zukunft wird sichern können.“

Er erinnert auch in diesem Werk an die Wurzeln der europäischen Union und deren Gründungsidee: durch ökonomische Verflechtung künftige Kriege unmöglich zu machen.


Handlung:
Im Zentrum des Romans steht das „Big Jubilee Projekt“: 50. Geburtstag der EU-Kommission. Die Generaldirektion Kultur unter Leitung der Zypriotin Xenia liefert ein radikales Konzept, um das schlechte Image der Kommission aufzubessern: Sie will alle KZ-Überlebenden als Testimonials einladen, und zwar nach Ausschwitz.


Das will allerdings in der EU-Kommission außerhalb der Kultur keiner. Der Roman erzählt aus ganz verschiedenen Perspektiven, wie dieses Projekt scheitert und zwischen persönlichen und politischen Interessen des EU-Apparates zerrieben wird.


Neben der ehrgeizig Karrierebeamtin Fenia Xenopoulou und ihrem Referenten Martin Sustmann samt diversen weiteren Mitarbeitern der Kommission agieren in dem Roman noch weitere zentrale Charaktere.
Da ist zum einen der KZ-Übelebende David de Vriend, der im Widerstand für die europäische Demokratie kämpfte und nun im Altersheim auf seinen Tod wartet.
Kommissar Emile Brunfeauts Großvater gehörte dem gleichen Widerstand an. Der übergewichtige Kommissar versucht einen mysteriösen Mord aufzuklären, der im Hotel Atlas stattfand.
Im Nebenzimmer des Hotels wird Prof. Ehrhardt Zeuge dieses Mordes. Er ist als Sachverständiger nach Brüssel gekommen, um als Mitglied des Think Tanks „New Pact for Europe“ zu referieren.
Der Roman erzählt die Lebensgeschichten dieser Hauptfiguren parallel. Immer wieder kreuzen sich auch deren Wege bis zum dramatischen Schluss.


Autor:
Der 63jährige Österreicher Robert Menasse beschäftigt sich seit langem mit der europäischen Idee und deren Geschichte. Der Autor hat in Brüssel gelebt und recherchiert. Er warnt immer wieder davor, die EU nur als bessere Wirtschaftsgemeinschaft zu sehen. Mit diesem prämierten Roman hat er es nun geschafft, seinen europäischen Gedanken einem großen Publikum nahezubringen.


Bewertung:
Die Kritik gibt den Juroren des Buchpreises recht und spricht von einem „mit Leidenschaft und Leichthändigkeit erzählten Buch“ (SZ). Die NZZ freut sich über den regelrechten Krimi um die europäische Fleischindustrie. Die FAZ sieht „Witz und Konstruktionsenergie“, und die FR begeistert sich, dass Menasse „den bürokratischen Klotz, als den sich die Welt Brüssel vorstellt, menschlich erscheinen lässt.


Auch in unserer Gruppe gab es kaum Kritik und viel Begeisterung für die „Hauptstadt“. Vor allem der Stil und die Sprache des Buches wurden als sehr gelungen bewertet. Mit 4 von 5 möglichen Gesamtpunkten erhielt der Roman eine der höchsten Bewertungen, die wir in den vergangenen Jahren vergeben haben.

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Buchkritik Yaa Gyasi: "Heimkehren“

Leidvolle Familiengeschichte auf zwei Kontinenten
DuMont Verlag, 2017, 416 Seiten


Yaa Gyasi wurde in Ghana geboren und ist mit ihren Eltern in die USA eingewandert. Mit ihrem Roman „Heimkehren“ hat die junge Autorin ihr Debüt vorgelegt.


Die Geschichte:
Erzählt wird eine parallele Familienchronik von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute. Ausgangspunkt ist das heutige Ghana, wo eine Mutter zwei Mädchen bekommt. Beide Mädchen wissen zunächst nichts voneinander. Die wird eine mit einem britischen Offizier verheiratet. Die wird andere gefangen und als Sklavin nach Amerika gebracht.


Im weiteren Verlauf zeichnet der Roman anhand von 14 Geschichten das Schicksal der Schwarzafrikaner in den Vereinigten Staaten sowie der in Afrika verbliebenen Bevölkerung nach. Neben einer Familiengeschichte ist „Heimkehren“ damit zum großen Teil eine Geschichte der Sklaverei, der Unterdrückung und des Leidens. Da die vielen Namen ansonsten verwirren, ist es sinnvoll, von Beginn der Lektüre an den Stammbaum am Ende des Romans als Orientierungshilfe zu nutzen.


Themen des Romans:
Neu für viele für uns war in diesem Kontext die Beteiligung der schwarzen Bevölkerung am Sklavenhandel. Gyasi erzählt, dass von den Einheimischen gezielt kriegerische Auseinandersetzungen geschürt wurden. Die Verlierer der gegnerischen Stämme oder deren Dörfer wurden dann an die britischen Kolonialherren gewinnbringend als Sklaven verkauft. Erst am Schluss schließt sich der Kreis wieder: Nach sieben Generationen treffen die Nachkommen in den USA des 21. Jahrhunderts aufeinander, zwei junge Menschen, die sich dann auf Spurensuche nach Ghana zurückbegeben.


Stil und Sprache:
Der Roman sorgte trotz großer und begeisterter Presseresonanz in unserer Gruppe für relativ zurückhaltende Begeisterung. Größtes Interesse weckte das Thema, wohingegen die Sprache und der Stil der Autorin als einfach und uninteressant charakterisiert wurden.


Bewertung:
Die Vielzahl der einzelnen Geschichten hätten jeweils Stoff für einen eigenen Roman gegeben, sodass vieles angerissen und nicht wirklich durchgearbeitet wirkt. Zudem waren die vielen grausamen Schilderungen schwer zu ertragen. Insgesamt erreichte der Roman damit in unserer Gruppe auch nur 2,8 von 5 möglichen Bewertungspunkten.

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Buchkritik Edna O’Brien: "Die kleinen roten Stühle“

Kriegsverbrecher betört irisches Dorf
Steidl Verlag 2017, 344 Seiten


Die Geschichte:
In einem abgelegenen westirischen Dorf taucht Dr. Vlad Dragan auf, vordergründig, um sich als Heilpraktiker und Sexualtherapeut niederzulassen. Rasch gewinnt er die Sympathien der Dorfbewohner; die einzigen Bedenkenträger, den Pfarrer, eine Nonne, und den pensionierten Dorflehrer, kann er überzeugen bzw. erfolgreich ignorieren.


Die unglücklich verheiratete Fidelma, früher Inhaberin einer Modeboutique, die dem infrastrukturellen Aufschwung der Region zum Opfer fiel, hat einen dringlichen Kinderwunsch. Sie verliebt sich in Dr. Dragan und bietet sich ihm an, um ein Kind zu zeugen. Dr. Dragan lässt sich darauf ein und entwickelt parallel leicht skurrile Nebentätigkeiten als Kindergärtner und Führer einer literarischen Reisegruppe. Doch ein Dorfbewohner, Immigrant aus Dr. Dragans Heimat Serbien, erkennt ihn. Noch im Reisebus wird Dragan verhaftet und zum Kriegsverbrechertribunal in DenHaag gebracht. Für die schwangere Fidelma beginnt nun eine Odysse des Verrats, der Stigmatisierung, der Gewalt, der Heimatvertreibung und des Rassismus.


Stil & Sprache:
Die bildreiche, klangvolle und doch nicht klischeehafte Sprache gefiel uns sowohl in der Übersetzung als auch im englischen Originaltext sehr gut. Die dichterische Veranlagung der Autorin, die nach eigener Aussage als Dichterin nicht taugt, ist unüberlesbar.


Einige störten sich an den vielen, willkürlich und teils zusammengewürfelt wirkenden Zeit- und Perspektivsprüngen. Andere sahen in der leicht chaotischen Form einen passenden, technisch virtuosen Spiegel der chaotischen Ereignisse vor Allem des zweiten und dritten Teils. Auch das Tempo steigert sich vom zweiten Teil an deutlich, möglicherweise aus demselben Grund.


Plot & Dramaturgie:
Ein wenig willkürlich, aber doch auch autorinnentypisch, erschien uns die Verpflanzung des doppelgesichtigen Psychopathen in die bigotte, frauenfeindliche irische Dorfgemeinschaft -- letztere ein Leitmotiv im umfangreichen Gesamtwerk der Autorin.


Kollektive Schuld, kollektive Schuldverdrängung per Sündenbock sowie individuelle Fahrlässigkeit und Naivität sind die zentralen Themen dieses Romans, der seine in der Presse gepriesene Virtuosität erst auf den zweiten Blick entfaltet. Das Wissen um den historischen Hintergrund ist Voraussetzung dafür.


Wie aus Briefen angedeutet weist die Figur Dragan starke Bezüge zu Radovan Karadzic auf, einem der verurteilten Hauptkriegsverbrecher aus den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren. Den Landsleuten von Radovan Karadzic wurde vorgeworfen, ihn jahrelang gedeckt und versteckt zu haben. Denn er praktizierte, obwohl als Kriegsverbrecher gesucht, jahrelang nach Kriegsende als Heilpraktiker in Belgrad. Mithin unterstellte man seinen Landsleuten, was auch die Figur des Dr. Dragan bis zum Ende aufrecht erhält: Die Billigung von Völkermord als „Notwehr“ und deren religiöse und völkische Motivation als sich im Zirkelschluss selbsterklärende, legitime Weltanschauung.


Bewertung:
„Die kleinen roten Stühle“ wurden von der Gruppe mit 3,3 von 5 möglichen Bewertungspunkten als lesenswertes, aber nicht leicht verdauliches Werk einer erfahrenen, national berühmten Autorin bewertet. Zwar fanden wir den Roman spannend, doch störten sich einzelne an der „unblutigen Grausamkeit“ vor allem des Fidelma-Schicksals.

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Buchkritik Lauren Groff: "Licht und Zorn“

Geschichte einer Ehe aus zwei Perspektiven
Hanser Berlin, 2016, 432 Seiten


In zwei Teilen beschreibt Lauren Groff die Geschichte der Ehe zwischen Lancelot (genannt „Lotto“) und Mathilde Sattherwhite. Ein Roman, dessen Gehalt und wahre Geschichte erst in der zweiten Hälfte des Buches zum Vorschein kommen, da ein Perspektivwechsel ungeahnte Hintergründe aufzeigt.


Autorin
Lauren Groff, 1978 in New York geboren, studierte Literaturwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Florida. Neben zahlreichen Erzählungen veröffentlichte die Autorin die beiden Romane „Die Monster von Templeton“ und „Arcadia“, bevor sie es mit ihrem dritten Roman und Bestseller „Licht und Zorn“ auf die Shortlist des National Book Award und auf viele weitere Jahresbestenlisten schaffte.


Inhalt
Der erste Teil des Romans ist mit „Licht“ überschrieben. Darin wendet sich die US-amerikanische Autorin Lauren Groff der Erzählung über den Verlauf der Ehe aus Lotto’s Sicht zu. Der Leser erhält Einblicke in Lottos Leben mit all seinen familiären Hintergründen und seiner Jugend.
Dabei ist der Lotto, früher ein Frauenheld, ständig auf der Suche nach Liebe und Anerkennung anderer Menschen, ist abhängig von der Bestätigung seines Umfeldes.
Beruflich versucht er sich passenderweise an einer Schauspielkarriere, scheitert jedoch jahrelang an diesem Ziel. Mathilde fängt die ersehnte Anerkennung durch ihren unerschütterlichen Glauben an sein Talent auf, das sie schließlich auch erkennt: Lottos herausragende Stärke ist das Schreiben von Theaterstücken, und so wird er zu einem berühmten und gefeierten Dramatiker.


In der zweiten Hälfte des Romans geht es um Mathilde, die hinter ihrem Lächeln ihren „Zorn“ verbirgt. Dieser Teil liest sich wie eine Antwort auf den ersten Teil: Angerissene Gedanken und offen gebliebene Fragen werden in diesem Teil, der die gesamte Ehe aus der Perspektive von Mathilde aufrollt, beseitigt. Das bisher unvollständige Bild über die Ehe fügt sich langsam wie eine Art Puzzle zusammen und zeigt dem Leser ungeahnte Geschehnisse und insbesondere eine Tiefgründigkeit auf, welche der erste Teil vermissen ließ.


Aufbau
Lauren Groff lässt ihre Protagonisten nicht abwechselnd, sondern nacheinander zu Wort kommen. Dieser ungewöhnliche Perspektivwechsel macht neugierig, wie unterschiedlich zwei liebende Menschen ihre Geschichte erlebt haben. Tatsächlich hat Lotto offenbar auf die wesentlichen Fragen in seiner Ehe nie eine Antwort gefunden. Die wahre Erkenntnis der beiden Persönlichkeiten bleibt allein dem Leser vorbehalten.


Erstaunlich und interessant ist vor allem, wie viele Geheimnisse die Ehe ausgehalten hat, ohne dass die Liebe jemals daran zu zerbrechen drohte. Mathilde hat Lotto nicht nur ihr Vorleben verschwiegen, auch der Grund für die kinderlos gebliebene Ehe und weitere brisante Zusammenhänge werden aufgedeckt.


Bewertung
Der ungewöhnliche Aufbau des Buches erhielt von unserer Gruppe die höchste Bewertung – mit 3,4 von 5 möglichen Punkten. Das Thema wurde mit 3,3 als interessant eingestuft. Stil und Sprache erhielten dagegen nur 2,5 Punkte, da einige den Schreibstil und damit die Lesbarkeit mühsam fanden. Tatsächlich haben auch nicht alle aus unserer Gruppe das Buch fertig gelesen. Möglicherweise wäre die Bewertung ansonsten aufgrund des interessanteren zweiten Teils im Ergebnis besser ausgefallen. In der Gesamtbewertung erreichte “Licht und Zorn“ 3 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Franzobel: "Das Floß der Medusa“

Mitreißender, unkonventionell erzählter Historienroman
Zsolnay 2017, 592 Seiten


Zu grausam? Zu roh?
Ein Roman, an dem sich schon vor der Lektüre die Geister schieden! Jedenfalls blieben einige der Mitglieder dem monatlichen Treffen fern und ließen über andere weitergeben, dass sie Franzobels „Floß der Medusa“ aufgrund der Thematik bewusst nicht gelesen hätten. Diejenigen, die den Roman gelesen haben, zeigten sich in ihrem Urteil höchst unterschiedlich, nur kalt ließ dieser Roman niemanden!


Handlung
Doch zunächst zum Plot, der bereits vielen Lesern bekannt sein dürfte u. a. aufgrund der Berühmtheit des im Louvre hängenden Gemäldes Théodore Géricaults „Le radeau de La Méduse“, das auch im Ausschnitt auf dem Schutzumschlag des Buches zu sehen ist.
Der österreichische Autor Franzobel (es handelt sich hier um seinen vollständigen Namen – ein Pseudonym!) erzählt hier vom Schicksal der französischen Fregatte ‚La Méduse‘, die im Jahre 1816 auf ihrem geplanten Kurs von Frankreich in den Senegal vor der Küste Afrikas auf Sand läuft. Nicht unschuldig daran sind der selbstgefällige und unfähige Kapitän sowie sein hochstapelnder Berater, die beide schon schnell auf Konfrontationskurs mit ihren Offizieren gehen und deren Mahnungen und Ratschläge in den Wind schlagen. Ebenfalls an Bord ist der neue Generalgouverneur des Senegal, der auf große Eile drängt, die nach Ende der napoleonischen Kriege wieder an Frankreich gefallene Kolonie zu erreichen. Diese Mischung aus Stümperei und Eile führt zur Katastrophe: das Schiff steckt fest und für die 400 Passagiere gibt es lediglich sechs Beiboote, die gerade einmal Platz für 250 Personen bieten würden, hätte man sie denn ganz gefüllt. Einige bleiben an Bord des Wracks, 147 Personen finden Platz auf einem 20 Meter langen und sieben Meter breiten Floß, auf dem die Menschen zunächst bis zur Hüfte im Wasser stehen. Versucht man zunächst mit den Beibooten, das Floß mit sich an Land zu ziehen, kappt man recht schnell das Schlepptau, da das Floß die Boote zurück auf Meer treibt.
13 Tage treibt das Floß auf dem offenen Meer und schon in der ersten Nacht kommt es unter den eng beieinanderstehenden Schiffbrüchigen zu Kämpfen, werden Menschen von Bord gestoßen, werden aufgrund der hoffnungslos erscheinenden Versorgungslage gar Fleischstreifen aus den Toten geschnitten, werden die Schwachen von den Starken ausgesondert, um so das eigene Überleben zu sichern. Nur 15 Menschen überleben.


Franzobel erspart dem Leser nichts, das Unvorstellbare findet hier seine Versprachlichung, Etappe für Etappe des nahenden Unglücks werden in der ersten Hälfte des Romans in spannungsvoller chronologischer Abfolge erzählt.
Der zweite Teil ist dann ganz dem Kampf ums Überleben der Schiffbrüchigen gewidmet, wobei hier deutlich gedrängter erzählt wird als in der vorhergehenden Hälfte.


Dass dieser Stoff, der die Gefährdungen und Grenzen menschlicher Kultur in bedrohter Lage aufzeigt, nicht zu schwer daherkommt, liegt am frechen und unkonventionellen Ton des Erzählers, der trotz aller Tragik des Geschehens, eine zuweilen gar heitere Distanz schafft. So werden einzelnen Figuren Physiognomien von Hollywood-Schauspielern beigegeben und auch Intimstes wie beispielsweise die Diarrhoe des Kapitäns u. ä. wird hier nicht ausgespart.


Bewertung
Der Roman traf in unserem Kreis auf eine höchst gegensätzliche Resonanz, wobei zu konstatieren ist, dass er niemanden gleichgültig gelassen hat. Negative Reaktionen riefen vor allem das Sujet und dessen manchem zu detailliert erscheinende Beschreibung des Grausamen und Hässlichen hervor.


Lediglich sieben Mitglieder brachten in dieser Runde ihre Wertung ein, wobei es hier von zwei Lesern die absolute Höchstwertung von 5,0 gab, gefolgt von zweimal 4,6! Nur eine Leserin zeigte sich in allen Bereichen enttäuscht und vergab insgesamt eine 1,0. Zusammengerechnet kam die Gruppe auf eine 3,9.

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Buchkritik Julian Barnes: "Der Lärm der Zeit“

Komponist zerbricht an diktatorischem Regime
Kiepenheuer und Witsch, 256 Seiten


Der britische Autor Julian Barnes hatte 1984 mit dem Roman „Flauberts Papagei“ seinen literarischen Durchbruch. In seinen Büchern beschäftigt er sich regelmäßig mit Literatur, Kultur und dem Unterschied zwischen Sein und Schein. Viele seiner Werke haben zudem einen geschichtlichen Bezug.
„Lärm der Zeit“ passt genau in diesen Themenbereich. Der Autor nimmt den Leser sehr einfühlsam mit in die Gefühls- und Gedankenwelt des russischen Komponist Dimitri Schostakowitsch und zeigt auf, wie sehr die politischen Gegebenheiten und Ereignisse seine musikalischen Werke und sein Leben beeinflussen.


Dimitri Schostakowitsch wurde 1906 in Petrograd (Petersburg) geboren und komponierte bereits als elfjähriger seine ersten Werke.1936 erklärte ihn Stalin wegen seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ zum Staatsfeind. Die Angst vor dem Regime bestimmt fortan sein Leben. Widerstrebend folgt Schostakowitsch mit seinen Kompositionen und seinem Lebens als Künstler den herrschenden und wechselnden Leitlinien der russischen Kulturpolitik.


Schostakowitsch, zeigt Barnes, beugt sich der politischen Macht, um seine Familie zu schützen, weiter arbeiten zu können und um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Äußerlich ist er ein gefeierter Mann, eine Persönlichkeit. Seine Musik wird gerühmt, er bekommt wichtige Ämter und herausragende Auszeichnungen. Doch Schostakowitsch zerbricht an seinem Leben, weil er verachtet, was aus ihm geworden ist.


Inhalt:
Das Buch, dem ein Prolog vorangestellt ist, gliedert sich in drei Abschnitte (Lebensphasen).


Auf der Treppe: Dimitri Schostakowitsch sitzt nächtelang mit gepacktem Koffer neben dem Aufzug. Er rechnet mit seiner Abholung durch den Geheimdienst. Die Bedrohung durch die politischen Machthaber lassen ihn nicht schlafen. Gedanken jagen durch seinen Kopf und gehen zurück in die Vergangenheit, seine Kindheit, seine erste Liebe zu Tanja. Seine erste Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ entsteht. Auf der einen Seite wird die Oper international gefeiert, auch in der UdSSR, jedoch später von Stalin verurteilt. Stalins Ablehnung ist der Grund für seine momentane bedrohliche Lebenssituation.


Im Flugzeug: „Dies war die schlimmste Zeit“, so beginnt der zweite Abschnitt des Buches, die Zeit seines Schaffens hauptsächlich unter Stalin. Bei der Reise in die USA, nach New York zum Weltfriedenskongress hat er zwiespältige Gefühle. Er wird unter Druck gesetzt, mit der russischen Delegation mitzufliegen. Das erhoffte Gefühl von Freiheit bleibt aus. Die Reise verläuft nicht so frei wie gedacht sondern eher demütigend.

Schostakowitsch beginnt „realistische“ Musik zum Wohle des Volkes zu komponieren, Sinfonien und auch Filmmusiken. Dafür bekommt er etliche sowjetische Auszeichnungen. Er steht unter ständiger Beobachtung und tritt gegen seine Überzeugung der kommunistischen Partei bei. Dadurch erhält er einen Posten im sowjetischen Komponistenverband. So schützt er sich und seine Familie und kann so seine Existenz sichern. Eigentlich möchte er aber sein Leben der Musik widmen und komponieren.


Im Auto: Schostakowitsch lebt wohlsituiert in Moskau. Chruschtschow ist an der Macht. Die politische Situation ist leichter geworden. Er sitzt im Auto hinter seinem Chauffeur und betrachtet ihn von hinten. Seine Gedanken wanderten zurück. Seine Frau Nina war gestorben, von der zweiten hat er sich scheiden lassen und die dritte war nur zwei Jahre älter als seine Tochter. Schostakowitsch ist krank, verkannt, verehrt, verunsichert und mit sich unzufrieden.


Bewertung:
Die Gesprächsrunde zu diesem Buch war sehr engagiert und angeregt, weil die Positionen und Betrachtungsweisen sehr unterschiedlich waren. Wer eine Beziehung zur Musik und ein Hintergrundwissen zu Schostakowitsch hatte war sehr berührt und angetan. Anderen fehlten historische oder musikalische Bezüge.
Insgesamt kam eine gute Bewertung von 3,6 zustande, wobei einzelne Bewertungen zwischen 1 – 5 schwankten. Das Thema, Stil und Sprache und der Aufbau der Handlung wurden gut bewertet, und das Buch wurde von den allermeisten gern gelesen.
ho

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Buchkritik Dorit Rabinyan: "Wir sehen uns am Meer“

Moderne Romeo und Julia-Story
Kiepenheuer & Witsch 2016, 379 Seiten


Hintergründe
Die Autorin Dorit Rabinyan widmet das Buch dem 2003 ertrunkenen palästinensischen Maler Hasan Hourani, den sie persönlich kannte und dem sie nach seinem Tod einen berührenden Farewell Letter schrieb. Auch lebte sie selbst für ein Jahr in New York und lernte in Brooklyn eine Gruppe von Palästinensern kennen. So ist die dem Buch zugrundeliegende Geschichte über Chilmi und Liat in weiten Teilen die Liebesgeschichte von Hasan Hourani und Dorit Rabinyan. Allerdings gibt die Autorin in einem Interview an, dass diese Liaison nur das Fundament des Buches sei, der Rest sei Fiktion.


In der Presse wird die Story als moderne Fassung von Romeo und Julia gesehen. Eher handelt es sich aber wohl um die zwei Königskinder, die nicht zu einander kommen können, da das Wasser zu tief ist und der Königssohn nicht schwimmen kann.


Der Klappentext des Verlages verspricht eine Liebesgeschichte vor einem politischen Nahost-Konflikt. Tatsächlich spielt der Hauptteil des Romans in New York. Nur das Ende, ab Kapitel 29 von 37 und damit auf 62 von 379 Seiten, spielt sich überhaupt vor Ort in Nahost, unter anderem in Tel Aviv, Jaffa und Hebron ab.


Dass das israelische Bildungsministerium das Buch auf den Index setzte und es ablehnte, den Roman als Lektüre in der Schule zu empfehlen, ist in der deutschen Presse negativ aufgenommen worden, zumal das Buch den Bernstein-Preis der israelischen Verlegerorganisation erhalten hatte. Begründet wurde die Entscheidung des Ministeriums damit, dass die Geschichte über eine Liebe einer Jüdin zu einem Palästinenser bzw. nichtjüdischem Mann die separate Identität der Juden bedrohe und die Assimilation fördere. Das Buch stand jedoch auf der Liste der zehn besten Bücher des Jahres der Tageszeitung „Ha’aretz“. Die Autorin ist auf dem internationalen Literaturfestival in Berlin im September 2017 zu Gast und stellt ihr Buch vor.


Begrenzte Liebe
Von Beginn an macht die jüdische Ich-Erzählerin Liat deutlich, dass die Liebesbeziehung mit dem aus Hebron stammenden Chilmi zeitlich mit ihrem Wegzug aus New York enden muss und sich nur noch in den Köpfen abspielen kann. Sie kann damit die Sympathien der Leser nicht für sich gewinnen, sondern diese gelten dem Künstler Chilmi, welcher der Liebe eine Chance geben will. Während Liat keine Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt sieht, wünscht Chilmi sich ein harmonisches Miteinanderleben der unterschiedlichen Kulturen in einem Land.


Diese politischen Dimensionen, die von der Ich-Erzählerin aus der israelischen Sicht immer wieder aufgegriffen werden, sind interessant und der politische Konflikt und die Liebesgeschichte sind sehr gut miteinander verknüpft. Die starke Bindung der Jüdin an ihre Familie und ihr Heimatland wird überaus deutlich.


In der doch recht lang umschriebenen Liebesgeschichte des ersten Teils („Herbst“) sind trotz zahlreicher Be- und Umschreibungen die Persönlichkeiten der beiden Protagonisten aber nicht hinreichend klar umrissen, insbesondere nicht die der Ich-Erzählerin. Fraglich bleibt, woher die erotische Faszination füreinander kommt, sodass die Liebesbeziehung nicht glaubhaft erscheint. Insgesamt nimmt diese zu viel Raum ein und plätschert fast immer gleichbleibend vor sich hin. Erst zum Ende hin kann der Leser mit den Liebenden mitfiebern, ob sie letztlich noch dauerhaft werden zusammenleben können.


Der zweite Teil („Winter“), der mit über 200 Seiten den längsten Part des Romans ausmacht, ist hingegen viel besser gelungen. Wie die beiden Protagonisten den für sie ungewöhnlich harten Winter erleben, ist sehr gut beschrieben. Die Ich-Erzählerin gibt zahlreiche Beispiele für die Konflikte auf, die sich aus den unterschiedlichen Kulturen und politischen Ansichten der beiden Protagonisten ergeben. Dies wurde zum Teil jedoch als zu konstruiert und plakativ empfunden, zumal die Geschichte kurz nach dem 11. September 2001 in New York spielt.
Während das Ende für viele nicht überraschend war oder als zu einfache Konfliktlösung angesehen wurde, war dies für andere Leser bis zum Ende spannend und die Geschichte ein Leseerlebnis mit Herzklopfen.


Bewertung
Das Buch bewertete die Gruppe mit 3 Punkten in der Gesamtbenotung. Sein Thema wurde mit knapp 4 von 5 Punkten als interessant eingestuft und auch Stil und Sprache der Autorin erhielt überdurchschnittliche 3,3 Punkte, wenngleich die überbordende, sehr bildhafte Sprache zum Teil als anstrengend empfunden wurde. Demgegenüber wurden der Aufbau als eher einfach (2,6 Punkte) eingeschätzt, da der Roman fast rein chronologisch aufgebaut ist, und der Plot als wenig spannend (2,6 Punkte) eingestuft.

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Buchkritik Nathan Hill: "Geister“

Mitreißender US-Roman, der Psychologie und Zeitgeschehen geschickt zu verbinden weiß
Piper Verlag, 2016, 864 Seiten


Der Debütroman von Nathan Hill erschien 2016 in den USA unter dem Titel „The Nix“. Viel Lob von Seiten der Kritik, aber auch von seinem Mentor John Irving wecken hohe Erwartungen. Irving hat Hill sogar mit Charles Dickens verglichen. Autor Hill, laut Wikipedia 1978, laut Verlag 1976 in Iowa geboren, hat zehn Jahre an diesem Roman gearbeitet. Donald Trumps Wahlerfolg verstärkt noch das Interesse an dem Roman, da er quasi die aktuellen Geschehnisse in der US-Innenpolitik vorwegzunehmen scheint. “The Nix“ wird direkt in zwanzig Sprachen übersetzt.


Inhalt und Aufbau:
In seinem sehr umfangreichen Erstlingsroman entwirft der Autor ein Panorama der USA zwischen den Jahren 1968 und 2011 und verwebt dieses mit einer Mutter-Sohn-Geschichte.


Im Zentrum steht das Trauma eines verlassenen Kindes und die Weitergabe dieses Traumas über nachfolgende Generationen hinweg. In zehn Kapiteln und einem Prolog verbindet Hill die Schicksale von bald einem Dutzend Personen.


Protagonist des Romans ist Samuel, der weder als Schriftsteller noch als Literaturdozent zu reüssieren weiß und dann plötzlich nach 23 Jahren seiner Mutter wiederbegegnet. Diese wird in der Presse als Terroristin hochstilisiert, da sie (scheinbar) einen Angriff auf den rechtskonservativen republikanischen Präsidentschaftskandidaten begeht. In Rückblenden erfahren wir dann von den wahren Beweggründen von Samuels Mutter und ihrer Entwicklung als Jugendliche und Studentin in Chicago, wo sie zur unfreiwillig Beteiligten der Studentenrevolte wird. Neben diesem Erzählstrang werden aber auch die anderen Figuren sehr eigenständig gezeichnet. Alle Schicksale laufen zum Schluss zusammen und werden vom Erzähler gebündelt.


Stil und Sprache:
Der Autor zeigt in seinem Debütroman eine Fülle von Stilebenen. So verleiht er jeder Figur eine eigene Sprache, die diese eindeutig in ihrer Lebens- und Gedankenwelt situiert. Die Spannbreite reicht hier vom stream of consciousness der Figur des Pwnage, der mühsam der Welt der Computerspiele abzuschwören versucht, über den einer Spielanleitung gleichen tragikomischen Dialog zwischen dem Protagonisten Samuel, der sich in seiner Funktion als Literaturdozent mit der dummdreisten Studentin Laura Pottsdam auseinanderzusetzen hat bis hin zur atemlosen Schilderung der Ereignisse der Studentenrevolte in Chicago im Jahre 1968 in äußerst kurzen, konzentrierten Kapiteln.


Bewertung:
Insgesamt erhielt dieser Roman von fast allen Mitgliedern großes Lob und wurde von den meisten sehr gern gelesen. Dabei gab es aber auch durchaus kritische Stimmen, die dem Plot eine gewisse Konstruiertheit vorwarfen. Dass der Erzähler alle Figuren am Schluss zusammen zu zwingen versucht, schade der Glaubwürdigkeit. Zudem sei die Handlung in Norwegen zu wenig ausgeführt und falle deutlich gegenüber anderen Handlungssträngen ab. Auch schien einigen die Beziehung des Protagonisten zu seiner Mutter nach ihrer Wiederbegegnung zu wenig ausgestaltet und psychologisch zweifelhaft. Trotz dieser Einschränkungen erzielt das Buch fast durchweg sehr hohe Wertungen. Lediglich von einer Leserin wurden nur 1,8 Punkte vergeben. Die Wertungen der anderen Mitglieder bewegen sich von 3,4 bis mehrheitlich im Bereich 4 Punkte (von maximal 5) und höher. (mm)

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Buchkritik Ian McEwan: "Nussschale“

Kriminalgeschichte auf hohem sprachlichem Niveau
Diogenes Verlag 2017, 288 Seiten


Zum 400. Todestag von William Shakespeare im Jahr 2016 hat der Verlag The Hogarth Press, der 1917 von Leonard und Virginia Woolf gegründet wurde, namhafte Schriftsteller zu Neuerzählungen von Shakespeare-Werken aufgefordert. "Nussschale" ist der Beitrag von Ian McEwan.


Inhalt und Aufbau:
McEwan hat sich in seiner Auftragsarbeit "Hamlet" vorgenommen. Die Handlung ist deshalb vorhersehbar: Es geht um Bruder - und Gattenmord,um die Ermordung von Hamlets Vater. Trudy (Gertrude) und Claude (Claudius) planen raffiniert und ruchlos die Ermordung von Trudys Gatten. Das Besondere - wenn auch nicht Neue - ist die Erzählperspektive: Der Erzähler ist nämlich ein altkluger Fötus. Trudy ist im 8. Monat schwanger von ihrem Gatten.


Stil und Sprache:
In gewohnter erzählerischer Meisterschaft (so wurde es von den meisten von uns beurteilt) lässt McEwan den Fötus nicht nur über die Mordpläne seiner Mutter und seines Onkels räsonieren,sondern auch über Weltgeschehnisse und Literatur und wie ein kundiger Sommelier über erlesene Weine, deren reichlichen Genuss er mit der Mutter oft bis zur Trunkenheit teilt. "Der Rest ist Chaos" (Zitat aus dem Roman)


Bewertung:
Hamlets komplizierte Sein oder Nichtsein Problematik wird zur vorhersehbaren Kriminalgeschichte banalisiert, nicht im entferntesten auf McEwans gewohntem Niveau. Allerdings wurde der Roman von einigen doch gerne gelesen, auch wegen des nicht abzustreitenden Humors des liebenswerten Fötus. Im Schnitt ergab das nur 2,6 Punkte von 5 möglichen Punkten, bei einer Bandbreite von 1.2 bis zu 4.8 Punkten.

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Buchkritik Elif Shafak: "Der Geruch des Paradieses“

Hochaktuelle poetische fesselnde Geschichte über Glauben, Identität und die Türkei
Kein und Aber, 2017, 560 Seiten


Inhalt:
Die Rahmenhandlung spielt 2016 im heutigen Istanbul, bei dem die 35jährige Peri auf dem Weg zu einer Abendgesellschaft beraubt wird. Bei diesem Überfall fällt der Tochter ein Foto der Mutter in die Hände, das sie als Studentin mit zwei Freundinnen und dem gemeinsamen Professor in Oxford zeigt. Diese Vergangenheit als Studentin hat Peri bisher vor allen verborgen gehalten, denn sie hat Oxford verlassen, ohne das Studium abzuschließen.


Die blutige Auseinandersetzung auf der Straße und zu viel Wein später inmitten der wohlhabenden, doch in latenter Angst vor dem Staat lebenden und feiernden Gesellschaft führen Peri in Gedanken zurück in ihre Kindheit und nach Oxford.


Diese Kindheit in den 80er Jahren ist vom Streit um den richtigen Umgang mit Gott geprägt. Der Vater ist streng weltlich. Atatürks Portrait hängt überall im Haus. Peris Mitter nimmt dagegen ihren Glauben zunehmend ernster. Sie verbietet der kleinen Peri sogar Schuhe, da Leim aus Schweineknochen enthalten sein könnte. Peri muss mit Sandalen in die Schule gehen.


Zwischen diesen beiden extremen Polen versucht Peri ihre eigene Antwort auf die Frage nach Gott zu finden. Während die Eltern sich täglich zu Hause bekriegen und der geliebte Bruder wegen seiner politischen Aktivitäten gefoltert und schließlich ins Gefängnis geworfen wird, will Peri alles richtig machen. Sie flüchtet sich ins Lernen und Lesen und schließt die Schule als Jahrgangsbeste ab. Damit erfüllt sich ein Traum ihres Vaters: Peri stehen die Türen für ein internationales Studium offen.


Ihre Zeit in Oxford wird durch zwei Freundinnen bestimmt, mit denen sie schließlich auch zusammen in eine Wohnung zieht: Shirin, Iranerin, und Mona, Ägypterin. Die eine liberal, die andere religiös. Alle drei sind von ihrem Professor fasziniert – Azur, der Bücher über Gott veröffentlicht und Seminare dazu abhält. Peri, die Philosophie studiert, erhofft sich hier Antworten auf die Fragen, die sie seit ihrer Kindheit verfolgen.


Die 45jährige Politikwissenschaftlerin Elif Shafak thematisiert immer wieder das Leben muslimischer Frauen zwischen Tradition und Moderne, zwischen religiös geprägten Moralvorstellungen und dem Wunsch nach Selbstbestimmung. Dabei gibt sie den verschiedenen Lebensentwürfen ihren Raum, ohne zu werten.


Thema und Sprache:
Die Entwicklungsgeschichte von Peri ist gleichzeitig spannend erzählt, feinsinnig und berührend. Dazu liefert Shafak Einblicke in die Türkei und deren heutige Gesellschaft, mit der sich Peri arrangieren muss: „Wie ein geschickter Schneider hatte die Zeit die beiden Stoffe, die Peris Leben umhüllten, nahtlos zusammengenäht: das, was die anderen von ihr dachten und das, wie sie von sich hielt. “ Für das Thema des Buches und die Sprache hat die Gruppe unisono Bestnoten verteilt.


Aufbau und Dramaturgie:
Der Einstieg ins Buch ist mitreißend, und Peris Geschichte bleibt bis zum Schluss spannend. Allerdings hat das Buch im zweiten Teil Längen. Der Professor bleibt als Figur blass, die Studienzeit in Oxford samt ihrem dramatischen Finale wirkt damit auch eher unglaubwürdig und ist aus unserer Sicht der schwächste Teil des Romans.


Schade auch, dass die drei Freundinnen in ihren langen und kontroversen Diskussionen in Oxford keine neuen und überzeugenden Argumente für ihre persönliche Lebensweise und ihren Umgang mit Gott finden. Dementsprechend fand unsere Gruppe den Aufbau und die Dramaturgie auch nicht ganz überzeugend.


Bewertung:
Ungeachtet dieser kleinen Schwächen hat jede/r aus unserer Gruppe Elif Shafaks Buch gerne gelesen und zu Ende gelesen. Mit einer Gesamtnote von 4 von 5 möglichen Punkten schafft der „Geruch des Paradieses“ in Summe damit eine der besten Noten der vergangenen 12 Monate.   

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Buchkritik Han Kang: "Die Vegetarierin“

Spannend, verstörend, aber auch berührend
Aufbau Verlag, 190 Seiten


»Ich hatte einen Traum« erklärt Yong-Hye - in den Augen ihres eigenen Ehemannes bis dahin durchschnittlichste Frau der Welt - als sie beschließt, Vegetarierin zu werden. Sie verzichtet fortan auf alle tierischen Produkte in ihrem Leben. Die bis dahin ohnehin leidenschaftslose Ehe löst sich auf, wie auch alles andere in Yong-Hyes Welt. Die nur vorgeblich funktionale Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern zerfällt, ebenso das trügerische Eheglück ihrer ernsthaften, bis zum Ende pflichtbewusst-fürsorglichen und selbstlosen Schwester In-Hye. Und letztlich Yong-Hye auch selbst.


Inhalt & Aufbau:
„Die Vegetarierin“ erzählt die Geschichte einer Frau, die ihr Leben immer danach ausgerichtet hat, das zu tun was man von ihr erwartet und darüber hinaus möglichst wenig aufzufallen – und die sich am Ende mit aller Macht dafür entscheidet, einen anderen, eigenen Weg zu gehen. Yong-Hye selbst, die Protagonistin und Auslöserin vieler fundamentaler Lebensumbrüche kommt in Hang Kangs Roman allerdings nicht als Erzählerin zu Wort. In drei Abschnitte unterteilt erzählt „Die Vegetarierin“ in wechselnden Perspektiven zunächst aus dem Blickwinkel von Yong-Hyes Ehemann, anschließend aus dem ihres Schwagers Chong, und im abschließenden dritten Teil aus dem ihrer Schwester In-Hye. Yong-Hyes Gedankenwelt bleibt damit weitgehend unergründet, etwas worüber die Leserin ebenso spekulieren kann wie ihr nahestehendes Umfeld.


Stil & Sprache:
Han Kang erzählt die Geschichte geradlinig und ohne große Umwege, mit der Knappheit eines Tatsachenberichts. Ihre schlichte Sprache und die klare Struktur des Romans lassen die Geschichte aber nahe gehen. Der Roman ist trotz aller offen bleibenden Fragen doch spannend und auch berührend, wenn auch verstörend.


Bewertung:
In unserem Lesekreis wurde das Buch freundlich besprochen und letztendlich mit der Gesamtnote 2,9 bewertet. Auch wenn Thema und Ausgang des Romans befremden, so wurden Stil, Aufbau und Konstruktion des Romans positiv aufgenommen. Die zentrale Frage des Buches, wo Selbstbestimmung ihre Berechtigung hat und wo sie aufhört – oder ob sie überhaupt eine Grenze haben sollte, haben auch wir in unserem Kreis lange diskutiert.

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Buchkritik Steven Galloway: "Der Illusionist“

Leicht lesbare Lektüre zwischen Wahrheit und Illusion Luchterhand, 2015, 349 Seiten


Als Martin Strauss von seinem Arzt erfährt, dass er an Konfabulation, einer unheilbaren und fortschreitenden Erinnerungsstörung, leidet, will er unbedingt seine Erinnerungen an sein Leben an der Seite des Magiers und Entfesselungskünstlers Houdini rekapitulieren. Martin Strauss hat Houdinis Aufstieg und Fall begleitet, glaubt er zumindest. Er hat ihn schließlich sogar getötet, glaubt er zumindest. Doch was ist wahr an Strauss´ Erinnerung, und was ist Illusion?


Stil und Sprache:
Steven Galloway hat sich bei seiner Erzählung sehr eng an die über Houdini bekannte Fachliteratur gehalten. So lesen sich auch Strauss´ Erinnerungen über oder aus dem Leben Houdinis wie eine Biographie oder ein Sachbuch und sind in einem sehr nüchternen, fast schon hölzernen Stil geschrieben. Die Ausschmückungen der bekannten Houdini Abenteuer sind teilweise sehr in die Länge gezogen. Über den Magier oder den Menschen Houdini erfährt man nichts Neues.


Um so lebhafter und unterhaltsamer sind Strauss´ Erinnerungen an sein eigenes Leben dargestellt. Auch der Erzählstrang, in dem er die Diagnose Konfabulatur erhält und beschließt, seine Erinnerungen umgehend noch einmal zu erzählen, ist einfühlend, einfallsreich und mit sehr feinem Humor geschrieben.


Bewertung:
In unserem Literaturkreis reichten die Meinungen von langweilig bis spannend. Als teilweise anstrengend wurden die Sprünge zwischen den drei Erzählsträngen empfunden. Mit einer durchschnittlichen Bewertung von 2,9 ist Der Illusionist eine unterhaltsame Lektüre, ohne sich durch besondere Magie von anderen Büchern abzuheben.

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Buchkritik Jane Gardam: "Ein untadeliger Mann“

Leicht zu lesende, bewegte und bewegende britische Lebensgeschichte
Hanser Berlin, 346 Seiten


Mit einer kurzen Unterhaltung zweier Mitglieder in der Londoner Honourable Society of Inner Temple über Old Filth beginnt Jane Gardam den ersten Teil ihrer Triologie, in dem sie anhand zweier Erzählstränge die Lebensgeschichte des britischen Gentlemans Edward Feathers beschreibt.


Inhalt:
Durch den plötzlichen Tod seiner Ehefrau Betty brechen langverdrängte Erinnerungen in Edward auf, die in Rückblenden erzählt werden. Da ist seine Kindheit als Raj-Waise in Malaysia, die kurze Unterbringung in einer Pflegefamilie in England und seine Jugend auf einem Internat; danach sein Studium, seine Erlebnisse während des zweiten Weltkrieges und seine juristische Karriere als Kronanwalt in Hong Kong. Frisch verwitwet macht sich Edward nun auf den Weg, seine Cousinen zu besuchen und sich seinen Erinnerungen zu stellen.


Bewertung:
Bei der Besprechung in unserer Runde stellte sich sehr schnell heraus, dass man dieses Buch entweder sehr mag oder wenig damit anfangen kann. Für die einen ist die Lebensgeschichte Edwards zu ereignisreich und damit unglaubwürdig, für die anderen sind die einzelnen Episonden warmherzig und unterhaltsam erzählt. Den einen gefiel die Leichtigkeit nicht, mit der Jane Gardam auch die tragischen Lebensabschnitte erzählt, für die anderen macht gerade diese das Besondere an diesem Roman aus. Für die einen ist Edward Feathers ein kauziger, aber liebenswerter, alter Mann, für die anderen ist er unhöflich und ignorant. Die einen fanden den Sprung zwischen den beiden Erzählsträngen leicht und mochten die offen gebliebenen Geheimnisse, die anderen taten sich mit dem Wechsel und den fehlenden Auflösungen schwer.


Einig waren wir uns allerdings darin, dass wir die überschwenglichen Kritiken, die Jane Gardams Roman als Meisterwerk feiern und mit Werken wie „Der große Gatsby“ und „Abbitte“ auf eine Stufe stellen, nicht nachvollziehen können. Insgesamt vergaben wir 3,1 von 5 Punkten und meinen: Wer „Ein untadeliger Mann“ gern gelesen hat, wird auch den zweiten Teil der Trilogie „Eine treue Frau“ sehr mögen.

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Buchkritik Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin“

Neapel-Epos über eine Kindheit in den 50er Jahren
Suhrkamp Verlag, 2016, 422 Seiten


In vier Büchern beschreibt die Autorin, die unter dem Pseudonym Elene Ferrante publiziert, die Freundschaft zwischen zwei Frauen, die aus einem armen und von Gewalt regierten Viertel Neapels stammen. Elena Greco, die Lenu genannte Tochter des Pförtners, und Lila, die Tochter des Schusters, verbindet von ihrer Kindheit an eine Haßliebe, die das Leben der beiden prägt.

Die Tetralogie löste insbesondere in den USA ein Ferrante-Fieber aus, dem Kritiker und Schriftsteller in Reihen verfielen. Danach begann man sich auch in Deutschland für die Neapel-Saga zu interessieren. Im August erschien der erste Band mit seinen 422 Seiten, und nun fiebern auch einige aus unserer Gruppe den Fortsetzungen entgegen.


Inhalt:
Der Roman setzt mit einer Mutprobe ein, dem Besuch des als böse und gefährlich geltenden Don Achille, als die beiden Mädchen sechs Jahre alt sind, und begleitet sie bis zum Alter von 16 Jahren. Erzählt wird diese Geschichte des Erwachsenwerdens im Neapel der 50er Jahre aus der Perspektive von Lenu, dem artigen, angepassten Mädchen, das in seinem Gedanken und Handeln stets auf die unberechenbare, mutige und sehr intelligente Lila fixiert ist.


Im Buch heißt es: „Ich widmete mich dem Lernen und vielen anderen schwierigen Dingen, die mir fernlagen, nur um mit diesem schrecklichen, strahlenden MädchenSchritt halten zu können. „ Dabei wandelt sich das Kräfteverhältnis der beiden und die Abhängigkeiten voneinander im Lauf der Zeit. Denn Lenu schafft es nach langen Jahren der Paukerei auf die Mittelschule und schließlich aufs Gymnasium. Lila dagegen muss die Schule verlassen, um zu Hause in der Schusterei zu helfen. Dennoch triumphiert Lila am Ende des Romans wieder, denn aus dem mageren Kind ist eine schöne junge Frau geworden, die sich mit 16 Jahren den für dortige Verhältnisse reichen Lebensmittelhändler Stefano angelt und ihn heiratet.


Stefano ist nicht der einzige, der sich für Lila interessiert. Auch Marcello, selbstherrlicher Sohn des örtlichen Mafiabosses, wirbt lange und vergeblich um Lila. Lenu wiederum träumt von Nino, dem intellektuellen Sohn des Zugschaffners und Dichters Donato Sarratore. Auf der Hochzeit kommt sie aber mit dem Automechaniker Antonio Cappucio, dem Sohn der verrückten Melina… Die Autorin hat dem Buch eine Übersicht der wichtigsten Charaktere vorangestellt – einprägsame Figuren sind das, Männer und Frauen, alte und junge, alle gefangen in ihrem Viertel und der Tradition und geprägt von der bitteren Armut, der alle entkommen wollen.


Gemeinsam ist allen Figuren auch ein extremes Maß an Gewaltbereitschaft. Streitigkeiten werden nicht mit Worten, sondern mit Fäusten, Steinen, Gewehren ausgetragen. Schon Kinder hauen sich gegenseitig Steine an den Kopf, Männer schlagen regelmäßig ihre Frauen und Kinder. „Ich sehne mich nicht nach meiner Kindheit zurück, sie war voller Gewalt. Die Frauen bekämpften sich untereinander noch heftiger als die Männer“ schreibt so auch Lenu an einer Stelle.


Sprache und Stil:
Die Autorin beschreibt das Leben der Mädchen in ihrem Viertel sehr bildhaft und atmosphärisch. Dabei steht weniger der Ort – ein beliebiges Viertel in Neapel - selbst als vielmehr die Personen im Vordergrund, die das Rione prägen. Immer wieder gibt es auch Einblicke in den politischen und sozialen Hintergrund der Figuren, die sich mit den Nachwirkungen des Faschismus, den archaischen Strukturen und der in der Gesellschaft immer stärker werdenden Camorra arrangieren.


Bewertung:
„Sprachlich elegant, bildstark und dramaturgisch gekonnt“, schreibt die FAZ. Andere Rezensenten sehen das kritischer und sprechen von anekdotenhaften Schilderungen, die sich eine an die andere reihen. Auch in unserer Gruppe waren die Meinungen nicht nur durchweg positiv. Es gab völlige Begeisterung für einen „ wunderbar erzählten Entwicklungsroman“ mit „gekonnt und geschickt geschilderten und verknüpften Charakteren“. Es gab aber auch kritische Stimmen zu einem „netten Buch mit deutlichen Längen, das man nicht gelesen haben muss“ – und das auch nicht von allen fertig gelesen wurde.


In Summe ergab das eine 3,4 von 5 möglichen Punkten. Möglicherweise ist es aber auch zu früh, ein 1700-Seiten-Epos nach 422 Seiten abschließend zu bewerten. Das jedenfalls erklärte uns eine Ferrante-Verehrerin aus unserer Gruppe, die bereits 3 Bände auf Englisch gelesen hat und dem Ende des 4. Bandes entgegenfiebert.


Wer „Die geniale Freundin“ auf Deutsch weiter lesen will, muss sich jedenfalls noch gedulden. Möglicherweise wird in dieser Zeit auch die Identität der Autorin ganz geklärt. Aktuell wird die Tetralogie einer Übersetzerin mit deutschen Wurzeln zugeschrieben – Anita Raja - die in Neapel aufgewachsen ist und lebt.

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Buchkritik Joost Zwagerman: "Duell“

Rasante, amüsante Novelle über die Welt der Kunst
Weidle Verlag, 2016, 148 Seiten


Im Zentrum der Novelle stehen Jelmer Verhooff, erfolgreicher, hipper Direktor des wichtigsten Museums für moderne Kunst in den Niederlanden und ein (fiktives) Gemälde von Mark Rothko, Vertreter des abstrakten Expressionismus. Das Bild "Untitled No. 18", einer der größten Schätze des Hollands Museum, ist verschwunden. Ausgetauscht hat es eine Kopistin, die mit dem Original eine Kunstaktion initiiert. „Ich gebe Rothko den Menschen wieder“, sagt sie.


Statt den Diebstahl anzuzeigen, versucht Verhooff zusammen mit seinem schrulligen Restaurator das Bild wieder in den Besitz des Museums zu bringen. In einer rasanten, amüsanten und auch bissigen Story stellt der Autor die Frage nach dem wahren Wert der Kunst und nach ihrem Marktwert. Den Kunstbetrieb und seine Vertreter führt er ad absurdum.


Besonderheiten des Buches
Der niederländische Autor Joost Zwagermann hat das "Duell" 2010 für die niederländische Bücherwoche geschrieben. In dieser Woche vergeben niederländische Buchhändler das Boekenweekgeschenk unentgeltlich an Kunden, die in ihrem Geschäft einen bestimmten Mindestbetrag ausgegeben haben. Diese Tradition geht bis ins Jahr 1930 zurück. Das "Duell" erreichte damit eine Auflage von 950.000 Stück.


Im Nachwort des deutschen Übersetzers, Gregor Seferens, erfahren wir zudem mehr über den in den Niederlanden sehr populären Autor, der seit den 90er Jahren Erzählungen und Romane veröffentlicht, zwei Jahre lang auch eine TV-Talkshow moderierte und der sich im September 2015 in seinem Wohnort Haarlem das Leben nahm.


Bewertung durch die Hamburger Shortlist
Wir bewerten das Buch zum Großteil sehr positiv als unterhaltsame, genussvolle Geschichte, die uns auch am Abend noch zu einer hitzigen Diskussion zum Thema „Was ist Kunst?“ verleitete. Das Thema fanden wir insgesamt sehr interessant (Durchschnitt 4,4 bei einer Skala von 0-5) das Buch dramaturgisch spannend aufgebaut (Durchschnitt 4) und wir haben es gerne gelesen (Durchschnitt 4,2).


Einige fanden die Sprache des Buches an einigen Stellen etwas platt - möglicherweise auch ein Problem der Übersetzung. Mit einem Ergebnis über alle Kriterien hinweg von 4.0 erreicht das niederländische "Duell" jedenfalls unter den Büchern, die wir bisher gemeinsam gelesen haben, eine der höchsten Bewertungen.

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Buchkritik Dietmar Dath: "Leider bin ich tot“

Rätselhafter, schwer lesbarer Roman
Suhrkamp Verlag, 2015, 464 Seiten


Zwischen Himmel und Erde, heißt es in Dietmar Daths jüngstem Roman, gehen viele „Sachen“ vor, „von denen der beschränkte menschliche Verstand blutwenig begreift“.


Es ereignen sich zum Beispiel Kriege, „die heute noch keiner sieht, obwohl sie schon stattfinden“. Ferner gibt es „natürliche Systeme“, die „etwas empfinden, vielleicht auch denken“. Sie sind „Götter“, möglicherweise aber auch „etwas noch Unbekannteres“.


Die handelnden Personen heißen Kain und Abel oder Cerulean (die Himmlische) und Nathalie (Die am Geburtstag des Herrn geborene (dies natalis=der Tag des Geburtstages des Herrn). Allein für das Verständnis der vielen verschiedenen Namen wäre ein Glossar hilfreich gewesen.


Die Grenzen zwischen gut und böse verschieben sich in einer Tektonik der Zeitplatten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins. „Etwas wollte geschehen, das sich nicht überblicken ließ“.
Mit wenigen Worten gelingen Dietmar Dath zwar gute Beschreibungen von Personen und Situationen, nur stellt er sie leider nicht in einen schlüssigen Zusammenhang. Auch die wissenschaftlichen Abhandlungen über das Wetter und über „Gott und die Welt“, helfen dem Leser nicht.


Bewertung:
Das Buch ist nicht flüssig lesbar. Vier Leser der shortlist haben sich durch die Seiten hindurch gequält, andere haben entnervt aufgegeben. Die Bandbreite in der Bewertung reichte von 0 bis zu 2,3 Punkten. Das Gesamtergebnis lag bei einem Schnitt von 1,3 von 5 möglichen Punkten (Optimum) und damit einem der schlechtesten Werte, die bisher vergeben wurden.


Worum geht es in dem Buch?
In Dietmar Daths Roman "Leider bin ich tot" lernen wir zunächst Nasrin, Abel und Wolf kennen, entfernte Jugendfreunde, deren Lebenswege sehr unterschiedliche Verlaufe genommen haben.

Wolfs Werdegang hat ihn ins Pfarramt geführt, doch endet seine Existenz als Berufsgeistlicher, nachdem er eine Rollstuhlfahrerin zu Tode geprügelt hat. Nasrin hat mit der Zeit zu einem strengen muslimischen Glauben gefunden; derzeit beteiligt sie sich an einer unkonventionellen Forschungsarbeit zur Logik des Windes. Allerdings gerät sie als mutmaßlich terrorbereite Islamistin ins Visier des BND. Ihr Bruder Abel hingegen führt einen areligiösen Lebenswandel, er ist Kosmopolit und erfolgreich als Avantgarde-Filmemacher. Seine Karriere hat er maßgeblich seiner ständigen Begleiterin Cyan Cerulean zu verdanken.


Cerulean, die weitreichende Kontakte zu Branchengrößen und Mäzenen besitzt, hat jedoch eine eigene Agenda. Dass diese Agenda eine viel größere Dimension besitzt, und sozusagen nicht von dieser Welt ist, erkennt der Leser zunächst, als sich zeigt, dass Cyan mit dem Wind zu kommunizieren vermag. Es wird vollends erkennbar, als sie Abel plötzlich in Gestalt seines eigenen Doppelgängers gegenübertritt und sich ihm als Kain vorstellt.


Das fatale Wirken Cyan Ceruleans führt allerdings nicht nur Nasrin, Abel und Wolf zueinander; es greift auch mächtig in Schicksale und Lebenswege aller beteiligten Figuren ein – vorwärts wie rückwärts. Das halbirdische Wesen besitzt nämlich die Fähigkeit, sich und andere nach Belieben innerhalb der Zeit wie von einem Ort zum nächsten zu bewegen.


Nach und nach erfolgt im Roman eine Aufdeckung des Beziehungsgeflechts und der Wirkungszusammenhänge, die zwischen den Figuren und Ereignissen bestehen. Und davon gibt es rund um die Protagonisten einige:
  • Eine junge Rock-Band, die sich allmählich vom Nazi-Sumpf, aus dem sie gekrochen kam, entfernt und später den Black Metal-Sektor revolutionieren wird.
  • Das sehr besondere Mädchen Nathalie, das in der Luft herumschwebende Glyphen erkennen und entziffern kann und die die Bandpolitik maßgeblich beeinflussen wird.
  • Eine ausufernde Party im Porno-Milieu.
  • Eine linkspolitische Bloggerin, die sich, leicht verliebt, für Nasrin interessiert.
  • Einen für die FAZ tätigen Journalisten namens Dietmar Dath.
  • Und eine Clique undurchsichtiger, mächtiger Männer aus dem Nahen und Fernen Osten, die ein wissenschaftliches Geheimprojekt befördern, das Belege für eine aberwitzig anmutende These liefert: Das Wetter denkt, es lernt, und es reagiert – auf uns.

Erzählung und Handlungsstränge vollführen Zeitsprünge, auch die Figuren selbst finden sich mitunter in Vergangenheiten wieder. Und so wie die Zeit durchlässig ist, zerfließt auch die erzählte Geschichte in mehrere Stränge. So entrückt Cerulean zum Beispiel irgendwann durch einen Spiegel hindurch in eine Vergangenheit, wo sie stirbt.


Die Geschichte verästelt sich in zwei gleich wahre Verläufe – einen, an dem sie beteiligt ist, und einen anderen, bei dem sie leider tot war. Und wenn das Buch schließlich mit derselben Szene endet, die eingangs aus anderer Perspektive beschrieben wird, so weiß der Leser nicht, ob dies ein erklärender Rückgriff darstellt oder ob es vielleicht doch der Beginn eines alternativen Geschichtsverlaufs sein könnte.

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Buchkritik Sascha Reh: "Gegen die Zeit“

Hochinteressantes Thema, distanziert emotionsloser Sprachstil, blasse Figuren
Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2015, 360 Seiten


Zwischen 1970 und 1973 versucht Präsident Salvador Allende in Chile auf demokratischem Weg einen sozialistischen Staat aufzubauen. Die drei Jahre sind geprägt von der Hoffnung derer, die an eine gerechte Gesellschaft glaubten, und dem Hass derjenigen, die befürchteten, dadurch ihre privilegierte Stellung zu verlieren. Der Versuch endet am 11. September 1973 als Pinochets Militärputsch Allendes Utopie begräbt. Mitten hinein in die dramatischen Stunden dieses Putsches führt uns Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“.


Hans Everding ist ein junger deutscher Industriedesigner, der über ein Austauschprogramm die Möglichkeit erhalten hat, an der Universität in Santiago de Chile jungen Studenten die Grundzüge effektiver industrieller Produktion beizubringen. Everding wird von einem Regierungsvertreter angesprochen und eingeladen, an einem kybernetischen Projekt mitzuarbeiten.


Ziel ist es, die gesamte Industrie Chiles miteinander zu vernetzen. Durch die Koordination aller Produktionsmittel und der Auswertung aller Bedürfnisse soll die Mangelwirtschaft beseitigt werden, ohne in die Fehler einer Planwirtschaft zu verfallen. Es soll so weit gehen, dass exakt die Produkte hergestellt werden, von denen die Menschen im Moment der Produktion noch gar nicht wissen, dass sie sie demnächst benötigen werden. Unter Leitung eines profilierten britischen Wissenschaftlers versucht eine junge Gruppe hochmotivierter Wissenschaftler und Techniker, den ehrgeizigen Plan umzusetzen. Gegen alle sich auftürmenden Widerstände der Mangelwirtschaft und fehlender finanzieller und technischer Ressourcen schafft es die Gruppe dennoch, das futuristische Vorhaben zu beginnen und zumindest ansatzweise umzusetzen. Als 1972 der LKW-FahrerInnen-Streik das Land lahmlegt, kann das Projekt CORFO mit seinen aufgebauten Strukturen zumindest die gröbsten Versorgungsnöte lindern. Mit dem aufgebauten Netzwerk koordiniert die Projektgruppe den Transport der Produktion aus den noch arbeitenden Fabriken in die Städte. CORFO kann erste Erfolge verbuchen.


Die Handlung des Buches beginnt, als alles zu Ende ist. Hans Everding und sein Kollege Óscar fliehen am Tag des Putsches aus der Schaltzentrale ihres Projekts und versuchen, die Software und die Magnetbänder mit Aufzeichnungen vor den Putschisten in Sicherheit zu bringen. Denn auf den Bändern sind die Namen und Adressen der Allende-Unterstützer verzeichnet. Einen Tag später hat sich der erste Pulverdampf verzogen, alles ist zu Ende. Die Panzer rollen. Was wird aus den Menschen? Wer kann fliehen? Untertauchen? Wer wird verhaftet, gefoltert, gequält, getötet? Wer kooperiert? Ein Kampf um die Bänder beginnt, der mit allen Mitteln ausgefochten wird.


Plot & Dramaturgie
Das Buch wurde in den deutschen Feuilletons sehr wohlwollend besprochen. Der Plot sei fesselnd, hochaktuell und interessant. Und fraglos ist das Thema ungemein spannend. Das Projekt gab es wirklich, der Großteil des im Buch geschilderten Plots spielte sich tatsächlich so ab. Allende beauftragte tatsächlich ein kybernetisches Projekt, welches die neue Technik für ein nicht totalitäres antikapitalistisches Gesellschaftssystem liefern sollte. Leiter und Assistenten des Projektes brachten tatsächlich unter Lebensbedrohung 1973 Bänder und Software in Sicherheit.


Stil & Sprache:
Die spannenden historischen Tatsachen waren aber dennoch den meisten unserer LeserInnen das Buch nicht tragfähig genug, um über einen eigenwillige Sprachstil hinwegzuhelfen. Sascha Reh schreibt sein Buch "Gegen die Zeit" in einem sehr distanzierten, eher gewollt emotionslosen Stil. Figuren und deren Motivation bleiben blass. Ängste und Gefühle werden zwar geschildert, vermögen aber Leser und Leserin nicht zu berühren. Ob dies so die Intention des Autoren ist, der vielleicht Thema und Zeitkolorit mit dieser sprachlichen Distanz darstellen möchte?


Bewertung
Aus unserer Gruppe konnte das Buch nur 2 Leser mitreißen und begeistern. Bei 8 weiteren LeserInnen gelang dies nicht, sie waren eher gelangweilt oder gar enttäuscht. Dass das Buch in Summe dennoch die Gesamtwertung von 2,7 erhielt, liegt somit nur an dem interessanten Thema, welches die Wertung nach oben zog.


Wer zu dem spannenden Thema mehr nachlesen möchte, der kann dies hier tun.

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Buchkritik Andreas Kollender: "Kolbe“

Spannender Roman über Spion der Nazizeit
Pendragon Verlag, 2015, 446 Seiten


Fritz Kolbe hat als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes am Anfang des zweiten Weltkrieges eine Schlüsselfunktion inne, über seinen Tisch laufen streng geheime Dokumente. Eine Kurierfahrt in die Schweiz ermöglicht ihm die Kontaktaufnahme mit den Amerikanern. Er übergibt Ihnen hochbrisantes Material, unter anderem von der Wolfsschanze, die die Amerikaner in die Lage versetzen könnten, Hitler zu töten. Aber nichts passiert, der Krieg geht unvermindert weiter, er zweifelt an seiner Mission, doch seine Freundin Marlene, die ihm alles bedeutet, ermutigt ihn weiterzumachen


Stil & Sprache:
Die beiden ineinander verwobenen Geschichten wurde sehr unterschiedlich bewertet: Die Agentengeschichte galt als sehr flüssig und spannend erzählt, die eingeschobene Liebesgeschichte wurde als zu gefühlig, fast kitschig empfunden.


Plot & Dramaturgie:
Die Rahmengeschichte, die einige Jahre nach Kriegsende in den Bergen spielt, wurde von allen Teilnehmern der Shortlistgruppe als unnötig erachtet. Sie stört den Lesefluss und bringt nicht wirklich neue Erkenntnisse.


Bewertung:
Die Bandbreite in der Bewertung reichte von 2,1 bis zu 3,9 Punkten. Die Mehrzahl der Gruppe hat das Buch gern gelesen. Das Gesamtergebnis lag bei einem Schnitt von 3,1 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Yiyun Li: "Schöner als die Einsamkeit“

Hanser Verlag 2015, 352 Seiten
Verstörend, Kulturunterschied Ost-West, Schuld/ Unschuld


Yìyún Lǐ wurde 1972 in Peking geboren und emigrierte 1996 in die USA. Ihr Roman „Schöner als die Einsamkeit“ beschreibt das Leben in einer dorfähnlichen Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Repression durch den Staat und die Flucht aus diesem Leben durch Emigration in die USA.   


Inhalt:
Ruyu ist ein Waisenkind, das von zwei katholischen Schwestern aufgezogen wurde. Sie kommt als Teenager zu entfernten Verwandten nach Peking und trifft dort auf die gleichaltrigen Moran und Boyang und auf die Tochter ihrer Gastfamilie, die in die Proteste von 1989 verwickelte Shaoai.

Über zwanzig Jahre später teilt der in Peking reich gewordene Boyang seinen beiden in die USA ausgewanderten früheren Schulfreundinnen Ruyu und Moran mit, das Shaoai gestorben ist.


Aufbau:
Der Roman pendelt zwischen diesen beiden Zeitebenen. Stück um Stück enthüllen sich die unseligen Beziehungen der vier jungen Chinesen und ihrer Verantwortung für das Leiden von Shaoai, die körperlich und geistig zum Pflegefall wurde. Diese Vergangenheit scheint derart toxisch in die Gegenwart zu wirken, dass Ruyu, Moran und Boyang nicht in der Lage sind, funktionierende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.


Stil:
Dieses Leben ohne Mitgefühl für andere Menschen schildert die Autorin in einer sehr distanzierten, nüchternen Sprache. Das macht das Buch wenig einnehmend, fast unangenehm zu lesen, gleichwohl aber auch eigen und interessant.


Bewertung:
Polarisiert hat uns vor allem die Beurteilung der Hauptfigur Ruyu. Ist sie ein misshandeltes, bedauernswertes Kind mit Selbstmordgedanken, das nicht weiß, was es tut, oder ein empathieloser Roboter, ein Monster sogar, das schwere Schuld auf sich lädt?


Wir konnten uns nicht einigen, unsere Wertungen schwanken zwischen 1,8 und 4,5 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Monique Schwitter: "Eins im andern“

Lahme Liebeleien in sprachlich gutem Stil
Literaturverlag Droschl, Graz, Wien 2015, 232 Seiten


DIE IDEE:
„Wenn man plötzlich nach seiner ersten Liebe googelt“ und erfährt, dass die erste große Liebe Selbstmord beging, nimmt Frau das zum Anlass, über die vergangenen Beziehungen zu Männern zu rekapitulieren. Insgesamt zählt die Ich-Erzählerin zwölf unterschiedliche Beziehungen zu Männern. Sie gibt ihnen überwiegend die Namen der biblischen zwölf Apostel: Petrus, Andreas, Jakob, Philip, Nathanel, Tadeusz, Mathieu, Thomas, Simon, ihr Bruder, ihre beiden Söhne, der kleine Großer und der kleiner Kleine. Diese Affären und Freundschaften werden aus der Sicht der Ich-Erzählerin in zahlreichen Rückblicken dargestellt.


„BUNTE“-STORIES
Die Aneinanderreihung dieser Liebesgeschichten wirkt mühsam und zum Teil konstruiert. Trotz Tratsch wie in der Bunten berühren sie emotional nur selten. Die Verschachtelungen und immer wieder rückblickende Geschichten aus der Vergangenheit erleichtern das Verständnis der Leser nicht.


Die Ich-Erzählerin scheint um sich herum immer wieder Halt und das Glück zu suchen, zu dem die Männer ihr verhelfen sollen. Sie wirkt sprunghaft, letztlich erfährt der Leser über ihren Charakter aber nur wenig. Die männlichen Figuren sind dafür umso exakter beschrieben und gut voneinander abgrenzbar. Ein roter Faden ist nicht zu erkennen. Lediglich der Tod und der Verfall tauchen immer wieder in verschiedenen Aspekten auf.


BEWERTUNG:
Über diese Schwächen des Buches konnte auch die angenehme bis sehr gute Schreibe der Gewinnerin des Schweizerischen Buchpreises nicht hinwegtäuschen. Die Hamburger Shortlist konnte die zahlreichen Nominierungen des Buches auf anerkannten Shortlists nicht gänzlich nachvollziehen. Die Geschichten wurden als lapidar und langweilig empfunden. Viele von uns mussten mehrere Anläufe nehmen, um das Buch durchzulesen, da ein guter Spannungsbogen fehlt.


Die großen Gefühle vermisst nicht nur die Ich-Erzählerin in ihren zwölf Liebesgeschichten, sondern auch die LeserInnen. „Die Liebe sucht man sich nicht aus, sie sucht dich aus“ lautet die Weisheit der Großmutter der Ich-Erzählerin, die immer wieder biografische Züge ihrer Schöpferin widerspiegelt. Das Trostpflaster der LeserInnen: Die Lektüre können wir uns aussuchen.


Insgesamt erhielt das Buch knapp 2 Punkte in der Gesamtbewertung. Am besten wurden Stil und Sprache eingeschätzt mit bis zu 4 Punkten in der Einzelnote.

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Buchkritik Maylis de Kerangal: "Die Lebenden reparieren“

Dramatisch, poetisch, sprachgewaltig
Suhrkamp, 255 Seiten


Um 5.50 klingelt der Wecker von Simon Limbres. Es ist der letzte Tag seines Lebens, denn der 20 jährige Surfer wird sterben – und sein Tod anderen ermöglichen, weiter zu leben. Vorausgesetzt, die Eltern stimmen zu, der Arzt sucht die richtigen Empfänger aus, die Chirurgen geben ihr Bestes. Die Zeitspanne für eine erfolgreiche Organspende ist kurz bemessen.


24 entscheidende Stunden
Den Konsequenzen dieser Entscheidung verfolgt der Roman von Maylis de Kerangal aus den verschiedenen Perspektiven der involvierten Personen über einen Zeitraum von 24 Stunden. Eine Menschenkette, die die Autorin mit ihren Gefühlen und Gedanken, Stärken und Schwächen vorstellt. Zehn Menschen, für die dieser Unfall eine Katastrophe, das Ende einer Liebe, einen interessanten medizinischen Fall, eine Chance, ein großes Glück bedeutet. Dabei liefert sie kurze, schlaglichtartige Einblicke in das Leben der Erzähler wie etwa dem kauzigen Stationsarzt, dem singenden Organspende-Experten oder der auf den Moment der Spende hinlebenden Empfängerin. Gleichzeitig wird Maschinerie der Organspende präzise und nüchtern geschildert. Aus diesem Zusammenspiel von emotional aufrührenden Szenen und deskriptivem Reportagestil vor dem Hintergrund der immer knapper werdenden Zeit bezieht das Buch eine enorme Spannung.


Langgestreckte Sätze
Dazu kommt eine sehr kraftvolle Sprache, in der sie die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten beschreibt. In langen, mitunter über mehrere Seiten gehenden Sätzen spiegelt sie die Atemlosigkeit, die Hast der 24 Stunden für die erfolgreiche Transplantation wider. „Langgestreckte Sätze von konzentrierter Schönheit“ hat das die NZZ genannt. Gleichzeitig findet die Französin wunderbare Bilder in unmittelbarer Nähe des Todes. „Es gelingt ihr, dem Grauen eine poetische Stimmung zu entlocken“, schreibt der hr.


Zahlreiche Auszeichnungen
Tatsächlich hat die Autorin zahlreiche Preise erhalten. Schon 2010 stand ihr Buch „Die Brücke von Coca“ auf der Shortlist des renommierten Prix Goncourt. Auch „Die Lebenden reparieren“ hat in Frankreich nachhaltig begeistert. Dort gilt mittlerweile – anders als in Deutschland – für Organspenden die Widerspruchsregelung. Jeder Franzose, der nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat, ist Spender; Angehörig haben kein Widerspruchsrecht mehr.


Bewertung
Unsere Gruppe war mit wenigen Ausnahmen völlig begeistert von diesem sprachgewaltigen, spannenden, aktuellen und gleichzeitig sehr nachdenklichen stimmenden Roman. Dreimal wurde in allen Kategorien die Bestnote 5 vergeben (Stil, Aufbau Story, Thema, Spannung, gern gelesen) - das gab es in sechs Jahren Literaturclub noch nie.


Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die zu dem Buch gerade wegen der vielen Personen, der überbordenden Sprache und des atemlosen Stils keinen Zugang fanden. In Summe erzielte „Die Lebenden reparieren“ dennoch 4 von 5 Punkten und damit die beste Bewertung unseres Literaturclubs in 6 Jahren.

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Buchkritik Harper Lee: "Gehe hin, stelle einen Wächter“

Belangloser Vorgänger von „Wer die Nachtigall stört“
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 2015, 320 Seiten

Harper Lee hat bisher nur einen Roman veröffentlicht, doch dieser hat der US-amerikanischen Schriftstellerin Weltruhm eingebracht: "Wer die Nachtigall stört", erschienen 1960 und ein Jahr später mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, ist mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen eines der meistgelesenen Bücher weltweit.


Handlung:
"Gehe hin, stelle einen Wächter" spielt 20 Jahre später, im Amerika der 1950er-Jahre. Die 26jährige Jean Louise Finch besucht ihre Familie in ihrem Heimatort in Alabama und muss entdecken, dass ihr Vater Atticus nicht mehr ihrem Bild aus Kindheitstagen entspricht. Statt Toleranz, Gleichheit und Vorurteilsfreiheit für alle Menschen zu vertreten, setzt er sich nun politisch vehement gegen die Aufhebung der Rassentrennung ein. Es kommt zu einem großen Streit zwischen Tochter und Vater.


Diese Auseinandersetzung findet allerdings erst auf den letzten Seiten des Buches statt. Bis dahin plätschert die Geschichte vor sich hin. Beschaulich wird die heimatliche Umgebung der Familie Finch beschrieben. Ausführlich, fast schon langatmig wird der Leser über die gesellschaftlichen und moralischen Umstände der damaligen Zeit samt den Problemen einer Jugendlichen in den 50ern informiert.


In diese eher schlichte Backfischthematik streut die Autorin zum Ende Einsichten und eine politisch fragwürdige Argumentation des Vaters gegen die Aufhebung der Rassentrennung. Weder der als Höhepunkt gedachte Streit zwischen Tochter und Vater noch die anschließende Versöhnung sind dann wirklich überraschend und überzeugend.


Stil und Dramaturgie
Diese Geschichte lässt sich flüssig lesen, ohne besonders Highlights beim Erzähl- und Sprachstil. Dass man das Buch lesen sollte fanden allerdings nur die aus unserer Gruppe, die auch „Wer die Nachtigall stört“ kannten und so ein Wiedersehen mit den Figuren feiern konnten. Bei den anderen überwog Erstaunen ob einer sehr belanglosen dünnen Geschichte und Novelle.


Bewertung:
Die Bandbreite der Bewertung reichte daher auch von 1,2 bis zu 4,3 Punkten - und ergab einen Durchschnitt von 3,2 Punkten (Höchstzahl 5).

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Buchkritik Nadifa Mohamed: "Black Mamba Boy“

Geographisch literarisches Neuland, thematisch hochaktuell
366 Seiten, C.H. Beck Verlag 2015


Nadifa Mohamed erzählt in Black Mamba Boy das an das Leben ihres Vaters angelehnte Schicksal des somalischen Waisen Jama. Dessen Odysee führt in zwischen 1935 und 1947 durch einen vom Kolonialkrieg gebeutelten afrikanischen Kontinent bis hin nach Europa.


Handlung:
Jama, der früh seine Mutter verliert, wächst im Jemen ohne gesellschaftlichen Halt als Straßenjunge aus. Die Suche nach seinem Vater, der die Familie verlassen hat und im Sudan arbeiten soll, wird für Jahre zu seinem großen, unerfüllten Ziel.


Jama verpflichtet sich als Söldner bei der italienischen Besatzungsarmee. Nach dem willkürlichen Massaker seines Freundes durch einen italienischen Soldaten flieht Jama vor der Rohheit der Kolonialherren weiter nach Ägypten. Dank der Hilfe eines Mannes aus seinem Klan kann er als Seemann auf einem englischen Schiff heuern und reist bis nach Europa, während seine Frau in Äthiopien auf ihn wartet.


Bewertung
In unserem Club erzielte das Buch mit Gesamtnote 3 eine durchschnittliche Bewertung. Die Handlung und vor allem die unbekannten Teile von Afrika, in denen die Geschichte spielt, fanden die meisten von uns interessant.


Aber die Übersetzung samt ihrer überladenen Sprache stieß auf Kritik. Als Debutroman fanden wir dieses Buch dennoch bemerkenswert und das Thema der Flucht sehr aktuell.

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Buchkritik Amos Oz: "Judas“

Konstruierte Konflikte in handlungsarmen Buch
Suhrkamp Verlag 2015, 332 Seiten


Die Geschichte
Im Winter 1959/60 befindet sich Schmuel Asch in einer schwierigen Lage. Seine Eltern können ihn bei seinem Studium nicht mehr finanziell unterstützen und seine Freundin heiratet einen anderen. Deshalb nimmt er eine Stelle an, die ihn verpflichtet mit einem meinungsstarken alten Mann namens Gerschom Wald zu diskutieren.


Wald lebt mit der 45-jährigen Atalya, seiner Schwiegertochter zusammen, die den jungen Schmuel sofort in ihren Bann zieht. Schmuel arbeitet während seines Aufenthaltes weiter an seiner Examensarbeit, die sich mit Person des Judas befasst, der sich von einem Spitzel zu einem glühenden Verehrer von Jesus wandelt. Als der alte Mann erkrankt, pflegt Schmuel ihn und erfährt, wie Micha, der Sohn des alten Wald, ums Leben kam.


Stil & Sprache
Oz hat einen sehr knappen, fast lakonischen Schreibstil, der den Leser bei der „Beziehungsgeschichte“ oft allein lässt. Hin und wieder blitzt eine gelungene Formulierung auf, aber das Gefühlsleben der handelnden Personen wird nur sehr karg beschrieben. Zudem häufen sich Wiederholungen und wortgleiche Sequenzen in der Beschreibung von Schmuels Alltag und Aussehen.


Plot & Dramaturgie
Die Geschichte zwischen Schmuel, Ataly und Gerschom ist kaum ausgearbeitet. Trotzdem gelingt es dem Autor einen Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Das ist besonders der Rahmenhandlung, in der das Leben des Judas beschrieben wird, geschuldet, die die Geschichte vorantreibt.


Bewertung
Die Bandbreite in der Bewertung reichte von 1,4 bis zu 3,6 Punkten. Nur einige wenige aus unserer Gruppe haben das Buch wirklich gern gelesen. Das Gesamtergebnis lag bei einem Schnitt von 2,7, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Ludwig Winder: "Der Thronfolger“

Altertümliches, interessantes Psychogramm eines Unsympathen
Zsolnay Verlag, Wien 2014, 576 Seiten


Ludwig Winder beschreibt die letzten Jahre der k.u.k. Monarchie. Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des letzten Thronfolgers Franz Ferdinand. Menschenscheu und -verachtend und mit grimmiger Willensstärke drängt es Franz Ferdinand zur Macht. Er wälzt Staatspläne, sucht seltsame Koalitionen, wird von Ehrgeiz gequält und wird doch vom Kaiser Franz Joseph in keine wichtigen Staatsangelegenheiten einbezogen.


Ruhe findet Franz Ferdinand nur neben seiner vom Hofe als nicht standesgemäß angesehenen Gattin und bei dem manischen Ausleben seiner Schießwut. Als der Thronfolger in Sarajevo ermordet wird, ist er von seinen lang gehegten Staatspläne schon wieder abgerückt und von seiner Mission selbst nicht mehr überzeugt.


Der Roman von Ludwig Winder erschien bereits 1937 in der Schweiz. Der jüdische Autor durfte in Deutschland nicht publizieren; in Österreich wurde der Roman ob des Gesetzes „Zum Schutz des Österreichischen Ansehens“ verboten. 2014 wurde das Buch wieder neu aufgelegt und von den Feuilletons als literarische Kunstwerk gefeiert, in dem ein zugleich abstoßender und doch bemitleidenswerter Tyrann historisch exakt, psychologisch differenziert und menschlich gerecht dargestellt wird.


In unserem Lesekreis wurde die Meinung der Feuilletons bedingt geteilt. Insgesamt lasen wir das Buch mit Interesse und fanden, trotz bekanntem Ende, das Buch doch spannend und überraschend aktuell. Letztendlich störten wir uns etwas an dem eher altertümlichen und schlichten Sprachstil. Der Perspektivwechsel im letzten Teil des Buches hin zu den Innenansichten der Attentäter wurde von einigen Lesern als störend empfunden, und den meisten von uns wurden die 576 Seiten über die letzten Jahre der k.u.k Monarchie etwas arg lang.


In Summe wurde das Buch bei uns mit einer 3,3 bewertet. Und wie so häufig ist dieses eher indifferente Ergebnis nur der mittige Durchschnitt vieler Meinungen. Der Großteil von uns war jedenfalls angetan von dem Psychogramm des Unsympathen.

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Buchkritik Patrick Modiano: "Gräser der Nacht“

blass, handlungsarm, langweilig
Carl Hanser Verlag, 2014, 175 Seiten


Patrick Modiano erhielt 2014 den Literaturnobelpreis nachdem er bereits div. andere renommierte Preise (Großer Romanpreis der Académie Française, Prix Goncourt) gewonnen hat. Die Übersetzung von „Gräser der Nacht“ ist zudem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.


Inhalt:
Der Ich-Erzähler erinnert sich mithilfe seines alten Notizbuchs und einer Polizeiakte an die sechziger Jahre, als er sich in den Kreise von mysteriösen Menschen bewegte, die alle eine Verbindung zu Marokko hatten. Er verliebt sich in die undurchsichtige Dannie, die ihren wahren Namen, Wohnsitz, ihre Herkunft und Ziele verschweigt und nur andeutet, dass sie in eine „üble Geschichte“ verwickelt ist. Dabei scheint es sich um die Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka zu handeln. Nach drei Monaten verschwindet Dannie spurlos und hinterlässt nur einen Abschiedsbrief. Der Erzähler wird von dem Polizisten verhört, der ihm Jahre später die Polizeiakte zukommen lässt, danach hört er nie wieder etwas von Dannie und ihren Bekannten.


Stil:
Modianos Stil ist geprägt von der Erinnerung, die nebulös bleibt. „Gegenwart oder Vergangenheit hat es für mich nie gegeben. Alles verschmilzt.“ sagt der Ich-Erzähler an einer Stelle und vielfach fragt sich der Leser aufgrund der nur angedeuteten Ereignisse, ob er sich überhaupt tatsächlich an das erinnern will, was war.


Diese Unschärfe der Handlung und die vage Sprache konnten uns – mit zwei Ausnahmen – nicht überzeugen. Was in der Kritik als „zutiefst romantisch, zutiefst melancholisch“ (Spiegel Online) gelobt wurde, erschien uns handlungsarm und langweilig. Insbesondere der gerühmte – in unseren Augen andeutungsschwangere - „Modiano-Sound“ wurde von uns als enervierend empfunden, die Figuren und ihre Handlungen als blass und unglaubwürdig.


Es gibt Kritiker, die behaupten, Modiano schreibe „immer dasselbe Buch“. Für die meisten Mitglieder der Shortlist wird es so oder so bei diesem einen bleiben. Mit 1,5 von 5 Punkten erhält „Gräser der Nacht“ eine der schlechtesten Bewertungen unserer Shortlist.

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Buchkritik Carl Nixon: "Settlers Creek“

Spannender Zweikampf um den toten Sohn
Weidle Verlag, 343 Seiten


Ein jugendlicher Toter wird gefunden. Die Mutter des Jungen ruft Ihren Mann, der in einer anderen Stadt auf eine Baustelle jobbt, sofort an. Box, so heißt der Neuseeländer, setzt sich sofort ins Flugzeug.


Es folgen Rückblenden über das bessere Leben der Familie vor der Wirtschaftskrise. Box war gut situierter Bauunternehmer, der es sich leisten konnte, seine Kinder auf teure Privatschulen zu schicken; heutzutage arbeitet er nur als Handlanger am Bau und die Familie kommt gerade so durch. Mark, der Junge, der offensichtlich Selbstmord begangen hat, ist der Sohn des ersten Mannes seiner Frau, eines Maoris.


Dieser leibliche Vater, Tipene, kommt mit einem großen Troß von Maoris, um zu trauern. Box ist verärgert, weil Tipene sich in der Vergangenheit nie um seinen Sohn gekümmert hat.


Die Geschichte erreicht einen Höhepunkt, als die Leiche von Mark kurz vor der Beerdigung auf dem alten Siedlerfriedhof von den Maoris gestohlen wird. Mark macht sich auf den Weg, um die sterblichen Überreste seines Sohnes zurückzuholen.


Stil & Sprache
Der Leser wird ausschließlich mit der Sichtweise des Ziehvaters Box konfrontiert, seine Sprache ist direkt und deftig, möglicherweise in Anlehnung an die Sprache der ersten Siedler. Mitunter irritieren einige seltsame Metaphern (Tanzbär unter Starkstrom). Das könnte auch eine Folge der etwas holprigen deutschen Übersetzung sein


Plot & Dramaturgie
Die Geschichte, die von Stolz, Ehre und Gerechtigkeit handelt, hat etwas von einem „Western“ an sich, in dem sich zwei Männer duellieren. Die Wut und Trauer des Ziehvaters Box werden glaubwürdig beschrieben, die Gefühle und Beweggründe des leiblichen Vaters kommen allerdings zu kurz.


Bewertung
Die Bandbreite in der Bewertung reichte von 2,5 bis zu 4,6 Punkten. Einige wenige haben "Settlers Creek" sehr gern gelesen. Das Gesamtergebnis lag bei einem guten Schnitt von 3,3, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik David Peace: "GB84“

Schwierige Lektüre, sehr eigenwillig, fragmentierte Sprache und Handlung
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2014, 544 Seiten


Was für ein vielversprechendes Thema: Der Autor David Peace arbeitet den britischen Bergarbeiterstreiks von 1984-85 auf. Margaret Thatcher geht mit aller Vehemenz gegen die Gewerkschaften vor. Nach einem Jahr hartem Streik sind die Gewerkschaften am Boden zerstört, eine politische Wende ist eingeleitet worden.


In die Aufarbeitung dieser britischen Geschichte verwoben ist eine Kriminalhandlung, die Spannung verspricht. Und nicht zuletzt ist der Autor mit Preisen dekoriert und das Buch in den Feuilletons hoch gelobt. Wir haben uns viel versprochen von dem Buch - es wurde uns nicht eingelöst.


Aufbau und Struktur
GB84 ist ein akribisch komponierter Roman: Der einjährige Streik findet sich in 53 Kapiteln des Buches wieder, jede Streikwoche wird in einem eigenen Kapitel beschrieben. In jedem Kapitel werden drei Erzählstränge weitergeführt. Jeder Erzählstrang hat seine eigene Sprache, eigene Zeitebene und sogar eigene Typografie. Und nicht nur der Erzählrahmen ist komponiert, auch die Sprache ist vielschichtig arrangiert. Jede Überschrift birgt Doppeldeutiges, Namen und Pseudonyme sind höchst bedeutungsschwanger. Gedichtzeilen werden eingestreut, Satzfetzen in altertümlichen Sprachen eingewoben.


In diesen kompositorischen Rahmen wollte der Autor das widerspiegeln, was seiner Meinung nach den Bergarbeiterstreik kennzeichnete: chaotische Strukturen, unklare Machtverhältnisse, ein Umfeld von Bedrohung, Machtmissbrauch, Korruption und die Unfähigkeit und den Unwillen aller beteiligten Parteien zu einer einvernehmlichen Kommunikation oder gar einem Kompromiss zu kommen. Dieses Durcheinander zu dechiffrieren ist aber in Deutschland, 30 Jahre nachdem der Streik in Britannien zu Ende gegangen ist, nicht mehr möglich.


Zwei Beispiele mögen das veranschaulichen:
  1. Die zentrale Krimi-Handlung rankt sich um einen schiefgelaufenen Job einer Bespitzelungs-Truppe, bei der die abzuhörende ältere Dame zu Tode kommt. Dass es sich dabei um einen hochbrisanten, bis heute ungeklärten Mord der Atom-Gegnerin Hilda Murrell handelt, wird keinem deutschen Leser erkennbar werden. Die Brisanz der These von David Peace, dass letztendlich die Regierung in diesen Mord verwickelt ist, bleibt damit dem deutschen Leser ebenfalls verborgen.
  2. Zahlreiche hochpolitische Thesen des Autoren finden 2014 in Deutschland keinen Widerhall. So stellt Peace in GB84 dar, wie der britische MI5 den Gewerkschaftsboss Terry Winter (damals Roger Windsor) dazu bringt, sich mit Gaddafi zu treffen. Die Presse lichtet den Gewerkschaftsboss ab, eine Woche nachdem eine britische Polizistin mit einem Schuss aus der Lybischen Botschaft ermordete wurde. Es war ein Auftritt, der in Britannien offensichtlich bis heute präsent ist: "Who can forget the television Images of Roger Windsor kissing Gadaffi in his tent?" Diese Fernsehbilder sind in Deutschland nicht präsent - und somit wird die politische Brisanz der These, dass der MI5 dieses Image zerstörende Marketingdesaster der Gewerkschaft zu verantworten hatte, nicht klar.

Stil und Sprache
Die Sprache, in der der Roman verfasst ist, macht das Lesen und Dechiffrieren nicht einfacher. Denn David Peace erzählt nicht nur ein Geschichte oder Handlung, sondern er formt mit seiner Sprache eine Melodie, die in sich selber bereits etwas ausdrückt. Seine fragmentierte Sprache mit Stakkato-Wörter und -Sätze zeugen von verzweifelten Menschen die sich in einer zertrümmerten Welt bewegen.


Nach eigener Aussage hätte Peace zudem gerne noch mehr Altenglisch, lateinische und französische Wörter eingestreut, um die Referenz auf den Normannen William the Conqueror (Wilhelm den Eroberer) zu ziehen, der 1066 England eroberte. In der Tradition von William, der damals England und Yorkshire überrannte und in den folgenden Jahren lokale Aufstände blutig unterdrückte, sieht der Autor das Vorgehen von Thatcher gegen die streikenden Bergarbeiter. (1)

Und schließlich kommt in diese Mischung von angedeuteten Namen und Handlungen, geschrieben in einer höchst eigenwilligen Stakkato-Sprache noch der erklärte Willen des Autoren, das Chaos des Streiks und die unklaren Machtverhältnisse dieser Zeit in seinem Roman genauso abzubilden. Das heißt es gibt auch in dem fiktiven Krimi-Geschehen keine eindeutige Struktur. Jeder betrügt jeden, wer von wem welchen Auftrag bekommt, bleibt willentlich im Unklaren. Nur durch indirektes Schlussfolgern wird klar, welche Motive bei welchem Protagonisten zu welchen Handlungen führt.


Bewertung
Was für den heutigen Leser außerhalb Großbritanniens übrig bleibt, ist ein sehr schwer lesbares Buch, das eindrucksvoll darstellt, wie Thatcher einen persönlichen Krieg gegen die Gewerkschaften führt und wie die Streikenden von einer instrumentalisierten Presse als "Feind im Staat" verunglimpft wurden. Und es bleibt ein Krimikonstrukt, das mehr von Stimmung und Sprachmelodie lebt denn von stringenter Handlung. Eine Sprachmelodie, die sich zudem nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt.


David Peace weiß, wie schwierig er schreibt. Sein kommerzieller Erfolg verwundert ihn selber. Er geht sogar davon aus, dass viele seiner Bücher nur aufgrund der guten Kritiken gekauft werden, von Lesern, die nicht wissen worauf sie sich einlassen. Leser, die dann nach den Erstseiten-Schock das Buch für immer zur Seite legen. (2)


Und genauso erging es uns. Niemand von uns kam über ein Drittel des Buches hinaus. Unsere These: Nur sehr wenige Leser werden in Deutschland das Buch und den Krimi genießen können.


Referenzen und Sekundärliteratur zu GB84

(1) "I particularly wanted to excise as much Latin and French derived words from the text as possible. This relates to the idea of the North, and of Yorkshire in particular, being a separate country within a country. Thatcher's treatment of the miners, for me, echoed William the Conqueror's 'Harrowing of the North' - when Norman troops killed every male in Yorkshire and salted the earth - following his victory at Hastings"
Zitat David Peace aus: "The Strange Language of David Peace or The Exile from Yorkshire" Stéphanie Benson, 2009
europolar.eu

(2) Sehr interessantes Interview mit David Peace bei Spiegel Online


(3) "The Third English Civil War: David Peace's "Occult History" of Thatcherism" von Matthew Hart
Contemporary Literature
Volume 49, Number 4, Winter 2008
Seiten 573-596
online



(4) “A Scar Across the Country”: Representations of the Miners’ Strike
in David Peace’s GB84, Rhona Gordon
Kapitel 11, Seiten 142-151 aus: "Digging the Seam, Popular Cultures of the 1984/5 Miners’ Strike", Edited by Simon Popple and Ian W. Macdonald, Cambridge Scholars Publishing
cambridgescholars

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Buchkritik Hilary Mantel: "Die Ermordung Margaret Thatchers“

Zynisch, bösartig, sprachlich perfekt
DuMont, 2014, 158 Seiten


Inhalt:
In zehn Kurzgeschichten spürt die britische Autorin Hilary Mantel absurden, verstörenden und erschreckenden Begegnungen und Ereignissen in der Kindheit, Jugend, Ehe und fortgeschrittenen Berufslaufbahn ihrer ebenso vielen Protagonisten nach. Es geht um Magersucht, Kindesmissbrauch, Ehebruch, IRA-Terror, das Leben im England der 60er bis 80er Jahre und dessen dunklen Seiten.


Offenkundig sind autobiografischen Erfahrungen und Erlebnisse der Autorin in die Geschichten mit eingeflossen. Heute zählt Hilary Mantel zu den Stars der britischen Literatur. Für ihre historischen Romane „Wölfe“ und „Falken“ über die Tudorzeit im England des beginnenden 16. Jahrhunderts wurde sie 2009 und 2012 gleich zweimal mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet und von der Queen geadelt.


Doch Hilary Mantels Kindheit und ihr Start als Schriftstellerin waren bitter. Die Kritik erinnert an   frühere Jahre, in denen sie als zunächst wenig erfolgreiche Autorin über die Dörfer tingelte. Mit ihrem Mann verbrachte sie vier Jahre im saudi-arabischen Dschidda. Und sie lebte 1983 in Windsor, mit Blick auf das Krankenhaus, in dem sich die damalige Premierministerin Margaret Thatcher einer Augenoperation unterzog.


Sprache & Stil:
Hilary Mantel erzählt ohne Anteilnahme, aus der Sicht einer interessierten Beobachterin, zynisch und lakonisch. Sie beobachtet die Geliebte des Vaters, die Schwester beim Verhungern und den Mörder beim Anschlag.


Dabei gelingt es ihr in jeder Geschichte, mit wenigen treffenden Worten Situationen und Personen zu charakterisieren und den Leser einzufangen. Sie benutzt ungewöhnliche Bilder, arbeitet mit Anspielungen und zielsicher gesetzten Schock-Effekten. Die Ereignisse sind tragisch, komisch, niemals gemütlich. Und schon die ersten Sätze der Geschichten ziehen den Leser in den Bann: „Er war 45, als seine Ehe an einem langen Herbsttag, dem letzten mit Grillwetter, definitiv endete“ oder: „Stellen Sie sich zuerst die Straße vor, in der sie ihren letzten Atemzug nahm“.


Dramaturgie & Spannung:
Die Spannung, die Hilary Mantel mit den ersten Sätzen aufbaut, hält sie allerdings nicht bei jeder Geschichte durch. Manche der Erzählungen haben Längen, sind nicht verständlich, mitunter irritiert auch Übersinnliches. Highlight ist in jedem Fall die letzte Geschichte rund um den IRA-Anschlag auf Margaret Thatcher, die auch als letzte der Erzählungen entstand und zu Recht auf dem Titel steht.


Bewertung:
Trotz seiner großartigen Sprache – da war unsere Gruppe sich einig – erhielt der Erzählband daher in puncto Spannung durchweg nur eine durchschnittliche Bewertung und wurde auch nicht von allen wirklich gerne gelesen. Andererseits fielen die „zeitgenössischen Spukgeschichten“ (FAZ) auch bei keinem aus der Gruppe völlig durch.


Soviel Konsens war selten – und als Ergebnis mit 3,2 Punkten auch eine klassische Durchschnittsnote – von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Jhumpa Lahiri: "Das Tiefland“

Interessanter, gut zu lesender Familienroman
Rowohlt 2014, 528 Seiten


Inhalt:
Es ist die Geschichte von 2 Brüdern, die in Kalkutta aufwachsen. Der ältere Bruder geht nach dem Studium in die USA und setzt erfolgreich seine Karriere fort. Sein jüngerer Bruder schließt sich dem politischen Widerstand an und heiratet ohne die Zustimmung seiner Eltern Gauri. Das junge Ehepaar ist an einem Attentat gegen einen Polizisten beteiligt, das für die ganze Familie fatale Folgen hat.


Bewertung:
Von unserer Gruppe wurde das Buch begeistert aufgenommen („schon im Januar das beste Buch des Jahres!“) und die präzise Darstellung der inneren Entwicklung der Figuren gelobt. Die Handlung, die sowohl in den Staaten als auch in Indien spielt, war wenig vorhersehbar und dadurch sehr interessant. Die Sprache Jhumpa Lahiris ist schlicht und subtil. Die Autorin entwickelt ihren eigenen überzeugenden Stil. Insgesamt erzielte „Das Tiefland“ in unserer Gruppe eine sehr hohe Bewertung von 4.2 Punkten - von 5 möglichen. Einhelliges Urteil: ein sehr empfehlenswertes Buch.

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Buchkritik Yasmina Reza: "Glücklich die Glücklichen“

Episodenroman über Paare und ihre Probleme
Carl Hanser Verlag, 2014, 175 Seiten


Das Buch beginnt mit einer Episode der Toscanos, Odile und Robert, die in der Mitte eines Netzwerkes stehen. Sie streiten sich über den „falschen Kauf“ einer Käsesorte, die Situation eskaliert und entlädt sich schließlich in einem Ringkampf um die Autoschlüssel. Im Laufe des Buches erweitert sich der Kreis der Handelnden, Hauptfiguren der einen Episode sind Nebenfiguren in der nächsten ...


Stil & Sprache:
Die Schauspielerin und Theaterdramaturgin Yasmin Reza kann auch in ihrem Buch ihre Affinität zum Theater nicht verleugnen. Bei ihrer Wortwahl handelt es sich fast um Regieanweisungen, die schlaglichtartig auf eine Situation hinsteuern. Die Dialoge sind teilweise skurril, trivial und bitter, aber immer sehr glaubhaft. “Dem Einfachen entspringt das Pathetische“, hat Yamin Reza einmal über ihr eigenes Schreiben gesagt.


Plot & Dramaturgie:
Der Roman von Yasmin Reza ist kurz, es handelt sich um einen Episodenroman, der das Leben der oberen Mittelschicht in Episoden mit Eltern, Freunden, Geliebten und Vertrauten beschreibt. Gern gelesen: Jede der kurzen Episoden samt ihren Ehe- und Beziehungswahrheiten liest sich gut, doch in der Fülle aneinandergereiht verlieren sie an Reiz.


Spätestens ab der Mitte des Buches geht der Überblick über die Figuren verloren und damit auch das Interesse an den immer wieder neuen Konstellationen und Tiefschlägen.


Bewertung:
Die Jury war gespalten bei der Bewertung des Buches, die Bewertung reichte von 1,0 bis zu 4,25 Punkten, von trivial bis genial. Einige haben es gern gelesen, einige nicht. Das Gesamtergebnis lag daher im Schnitt bei 2,8 Punkten, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Margriet de Moor: "Melodie d'amour“

Gut konstruiertes, aber eher schwaches altbackenes Alterswerk
Carl Hanser Verlag, 2014, 384 Seiten


Handlung:
In Margriet de Moors Roman Mélodie d'amour geht es um die verschiedenen Spielarten der Liebe: der Liebe zwischen Menschen, die in einer langen Beziehung leben, der Liebe als Obsession, der Liebe zwischen Geschwistern, der freundschaftlichen und der platonischen Liebe. Ihr Panaorama entfaltet die Autorin in vier voneinander unabhängigen Kapiteln um den Rotterdamer Stadtarchäologen Luuk Doesburg, der allerdings nicht im Mittelpunkt des Buches steht. Die Geschichten drehen sich vielmehr um Menschen, die Luuk lieben.


  • In der ersten Geschichte ist Luuk der Teenager-Sohn, der Zeuge wird, wie sein Vater Gustaaf die Mutter Atie mit der Untermieterin betrügt. Dabei führen die Eltern eine gute Ehe und Gustaaf wird niemals aufhören, Atie zu lieben, auch nachdem Atie die Scheidung verlangt hat.
  • In der zweiten Geschichte erzählt die Lehrerin Cindy von ihrer Liebe zu dem nun 20 Jahre älteren und verheirateten Luuk. Er lässt sich auf eine Affäre mit ihr ein. Als er sich ihr zu entziehen beginnt, überschreitet sie die Grenze zum Stalking.
  • Im dritten Kapitel erzählt die Geliebte von Luuk die Geschichte der Liebe ihres Lebens. Dies ist nicht Luuk, sondern ihr früh verstorbenen Bruder Rogier, der sie nach dem frühen Tod der Eltern großgezogen hat.
  • Luuks Frau Myrte ist die Erzählerin der vierten Geschichte über die Liebe und in dieser findet ihr Mann mit keinem Wort Erwähnung. Sie erzählt vom Vater einer Freundin, ein berühmter Wasserbau-Architekt. Er war vor vier Jahrzehnten Myrtes große – platonische - Liebe.

Stil und Aufbau:
„Das Wie ist nicht das Warum“ hat Margriet de Moor als Motto ihrem Roman vorangestellt. Und dieser Gedanke mag der Schlüssel zum Buch sein. Für viele Handlungen im Buch gibt es keine Erklärungen oder Begründungen. Es geht nur um die Geschichte an sich und die Art, wie sie erzählt wird.


Es wird im Buch nicht geurteilt oder bewertet. Die Freiräume in den Beschreibungen sollen die Leser selber füllen. Eine Identifikation mit den Protagonisten ist damit aufgrund der fehlenden Perspektiven schwierig. Denn die vier Kapitel sind aus unserer Sicht zu wenig miteinander verwoben. Die vier Strophen der Melodie d'Amour empfinden wir als mehr oder weniger unabhängige Teile, die als eigene Bücher stehen könnten.


Bewertung:
Insgesamt erscheint uns das Buch als ein eher schwächeres Alterswerk einer ansonsten bemerkenswerten Autorin. In gewohnt präziser Sprache findet sie auch in diesem Werk schöne Bilder. Die Geschichten aber werden in der zweiten Buchhälfte weniger interessant.


Und eine eher altbackene Weltanschauung, in der die Frauen und Geliebten zu Hause dem Wohle des Mannes verpflichtet sind, scheint uns etwas aus der Zeit gefallen zu sein. In unserem Leserkreis wurden dem Buch mehrheitlich schwache zwei Punkte vergeben. Mit der Unterstützung der Margriet de Moor-Fans ist das Buch aber letztendlich in unserem Leserkreis mit 3,0 Punkten bewertet worden.

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Buchkritik Chimamanda Ngozi Adichie: "Americanah“

608 Seiten, S.Fischer 2014


Dieses Buch handelt von der Entwicklung der jungen Nigerianerin Ifemelu, die alleine nach Amerika geht und dort nach anfänglichem Scheitern aufgrund ihrer Intelligenz und Schönheit den ersehnten Erfolg hat. Ihrer großen Liebe Obinze gelingt es nicht wie verabredet nachzukommen. Stattdessen hat Obinze einen eigenen Erfolg im wirtschaftlich erstarkenden Nigeria. Am Ende entschließt sich Ifemelu doch nach Nigeria zurückzukehren und wird dort eine „Americanah“, eine Nigerianerin, die in den USA gelebt hat.


Das Buch schildert sehr authentisch das Aufeinandertreffen zwischen der nigerianischen und amerikanischen Kultur. Die Identifikationsängste, die Erwartungen und die vielen Unterschiede werden sehr genau dargestellt. Die Sprache bleibt hinter dem packenden und mitreißendem Inhalt etwas zurück. Dennoch ein sehr lesenswertes Epos.

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Buchkritik Michael Chabon: "Telegraph Avenue“

Sprachverliebt, ausufernd, detailverliebt
Kiepenheuer & Witsch, 2014, 592 Seiten


Handlung:
Archie Stallings und Nat Jaffe betreiben einen kleinen Jazz-Plattenladen in Oakland, der ehemaligen Industriestadt in der Bucht von San Francisco. Es ist das Jahr 2004, der Laden läuft mehr schlecht als recht und eigentlich ist "Broken Records" eher ein Treffpunkt für Stammkunden und Nachbarn aus der Telegraph Avenue.


In unmittelbarer Nähe zum Plattenladen will der schwerreiche Gibson Goode demnächst einen großen MultimediaStore eröffnen . Mit seiner gut sortierter Second-Hand-Abteilung wird der neu Megastore mit ziemlicher Sicherheit das Aus für den Plattenladen bedeuten.


Die beiden Ehefrauen der Plattenladenbesitzer, Gwen und Aviva, sind selbständige Hebammen und ebenfalls in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Eine Hausgeburt endet unter Komplikationen im Krankenhaus und der Kindsvater droht mit Klage.


Mitten in dieses Chaos tritt Titus auf, der (sozial etwas sperrige) uneheliche Sohn von Archie. Mit 14 Jahren steht er nun zum ersten Mal vor der Tür seines Vaters. Und dann ist da noch Luther Stallings, der Vater von Archie, ein ehemaliger Kung-Fu-Action-Darsteller, Kampfsportler und Ex-Junkie. Auch er spielt eine Rolle, aber nicht jene, die er sich erträumt, nämlich das späte Comeback in einer Fortsetzung seiner jahrzehntealten Erfolgsfilme.


Dramaturgie und Stil
Diese ganzen Handlungsstränge, zusammen mit noch vielen weiteren kleinen und großen Rahmenhandlungen sowie weiteren Protagonisten und Randfiguren werden in Telegraph Road, dem neusten 500 Seiten-Roman von Michael Chabon bereits im ersten Kapitel eingeführt.


Und ab dem zweiten Kapitel ist der Weg das Ziel. Nicht die Auflösung der vielen Dilemmata der Protagonisten steht im Vordergrund der Romanhandlung. Viel wichtiger sind dem Autor liebevolle Abhandlungen über Jazz, detailreiche Beschreibung einzelner Handlungsszenen oder wortreiche Ausführungen zu Kleidungsstücken. Keine Frage, der Roman ist sprachverliebt. Und wer auf derselben Wellenlänge liest wie der Autor mit seinem Sprachgefühl schreibt, wird den Roman sehr gerne lesen. Für einen Großteil der Feuilletonisten und Literaturkritiker trifft das zu. Der Roman wird ausgesprochen positiv rezensiert, Kritiker im In- und Ausland loben Telegraph Avenue aufs höchste.


Bewertung
Für unseren Literaturkreis traf das nicht zu. Nur ein Bruchteil unserer LeserInnen hat das Buch gerne - und dann auch bis zum Ende - gelesen. Der Rest hat vorher kapituliert. Zu ausufernd, zu detailverliebt, zu viel des Guten, das waren die vorherrschenden Eindrücke. Unsere gewohnte Punktewertung haben wir daher bei diesem Buch ausgesetzt. Auch wenn "Telegraph Avenue" bei uns seine Liebhaber gefunden hat - aber dass gut zwei Drittel unseres Kreises das Buch nicht zu Ende lesen konnten, war uns ungewöhnlich genug.

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Buchkritik Daniel Galera: "Flut“

Harte Männer am Meer, karge Sprache, spannender Plot Suhrkamp Verlag 2013, 425 Seiten


Seine große Liebe hat ihn verlassen, sein Vater hat sich wie angekündigt umgebracht. Vor diesem Hintergrund zieht der Schwimmer und Fitnesstrainer, der im Roman namenslos bleibt, in den brasilianischen Badeort Garopaba, um den angeblich gewaltsamen Tod seines Großvaters aufzuklären. In Garopaba lernt die Hauptfigur in der Nebensaison verschieden Frauen und harte Männer kennen, kann und will aber seiner Einsamkeit nicht entkommen.


Eine zentrale Rolle in diesem Leben und in Galeras Buch spielt das Meer und seine Ambivalenz. Denn das Meer bietet einen weiten Horizont und Ausweg, aber das Meer macht die Menschen auch zu einem "Gefangenen des Landes".


Ein Männerroman? Das fand ein Teil unserer Gruppe und langweilte sich auch zwischendrin mit der eher schlicht gestrickten ewig Sport treibenden Hauptfigur. Der überwiegende Teil schätzte das Buch dagegen als moderne Auseinandersetzung mit dem Brasilien von heute und würde es weiterempfehlen: spannend zu lesen durch seinen Krimiplot, und vor allem im Winter anregend, da das Buch auf faszinierende und ambivalente Weise von Sonne und Meer spricht und in der Auflösung des Rätsels um den Großvater schockiert.


In der Gesamtnote schaffte das Buch eine 3,6 von 5 möglichen Punkten - bei einer Bandbreite von 0 (totalem Flop) bis zu 5 (absolute Begeisterung)

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Buchkritik Elizabeth Strout: "Das Leben natürlich“

Lesenswert, interessant, pointiert
Luchterhand 2013, 325 Seiten

Die Geschichte:


Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag.
Der neunzehnjährige, schüchterne, stille, sprachverweigernde Zach wirft einen Schweinekopf in die Moschee von Shirley Falls. Die dort betenden Somalis sind entsetzt. Die Stadt ist in Aufruhr, die einen, die eine harte Strafe fordern, um ein Exempel zu statuieren, die anderen, die die Aktion als Dummejungenstreich ansehen und die Somalier eigentlich nicht in Shirley Falls haben wollen.


Shirley Falls hängt am Tropf, hohe Arbeitslosigkeit, es gib keine Jobs, ein kleine, mutlose Stadt in Maine. Im Gegensatz zu New York, das lebendige, farbige Kaladeioskop Amerikas. Die Mutter des Jungen Susan, eine geborene Burgess ruft ihre Brüder zur Hilfe, beide Anwälte in New York.


Jim, der ältere, Harvard Absolvent, eine bekannte Größe nach der Verteidigung von Wally Pecker, befindet sich gerade im Urlaub mit seiner Frau Helen, die ihm drei Kinder geboren hat. Sie bringt das Geld in die Ehe und hält die Familie zusammen. Jim schickt seinen Bruder Bob nach Maine, um sich des Falles anzunehmen.


Bob arbeitet als Rechtshelfer am Berufungsgericht, ist geschieden, und wohnt sehr bescheiden. Er trinkt und raucht viel und trifft sich regelmässig mit seiner Ex Frau Pam. Er wird gern von seinem Bruder als Loser gehänselt und hat einen Schuldkomplex, weil er glaubt, seinen Vater getötet zu haben. Doch davon später.


Zach wird auf Kaution freigelassen, aber der Fall wird nicht, wie erwartet, wegen Geringfügigkeit fallen gelassen. Demonstrationen sind angekündigt und die Burgess Brüder beschließen widerwillig, nach Shirley Falls zu fahren, um Flagge zu zeigen. Jim hält eine viel beachtete Rede, er ist ein mitreißender Rhetoriker, hält sich aber nicht an die Gepflogenheiten des engstirnigen Maine und verlässt die Szene, bevor der Gouverneur gesprochen hatte. Ein Faux Pas, wie sich später herausstellt. Wieder zurück in New York versucht Jim und seine Verbindungen auszuspielen, indem er Anklage (District Attorney) und Richter zu beeinflussen sucht...


Stil und Sprache:


Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout beschreibt den Konflikt zwischen Stadt (New York) und Land (Maine) bildhaft, kratzt aber leider öfters nur an der Oberfläche der Probleme.


Plot & Dramaturgie:


Das Potential des Plots, ein Familiengeheimnis, Fremdenfeindlichkeit, Perspektivlosigkeit der Jugend wird leider nicht genutzt. Die Geschichte plätschert so dahin, die Charaktere werden nicht in der Tiefe ausgeleuchtet.


Bewertung:


Die Jury war gespalten bei der Bewertung des Buches, die Mehrheit hat es gern gelesen, einige wenige nicht. Trotz verpasster Chancen fanden die Leser die angesprochenen Themen sehr interessant Das Gesamtergebnis lag daher im Schnitt bei 3,1 Punkten, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Terézia Mora: "Das Ungeheuer“

Fordernd, tragisch, preiswürdig
Luchterhand 2013, 688 Seiten


Inhalt
Darius Kopp, Workaholic aus dem Vorgängerroman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, hat nichts mehr zu verlieren: seine Frau Flora hat sich im Wald erhängt, seinen Job bei der mysteriösen IT-Firma hat er verloren. Mit zwei Kartons - einer enthält die Urne mit Floras Asche, der andere Geld unbekannter Herkunft aus seinem Ex-Büro – macht er sich mit dem Auto auf die Reise durch die ehemalige UdSSR, um Flora auf die Spur zu kommen. Auf dem Weg durch den Balkan begegnet er allerlei tragikkomischen Gestalten und findet dabei zaghaft heraus aus der Isolation der Trauer.
Parallel dazu kommt Flora in ihren Tagebucheinträgen zu Wort, einem Dokument von Migration, Wurzellosigkeit, Talent, Krankheit, Hoffnung, Kampf, Zähigkeit, Einsamkeit und zuletzt dem Zerbrechen an einer Krankheit, die Flora sich selbst zerstören lässt.


Stil & Sprache
Kopps und Floras Leben verlaufen parallel – sie berühren sich trotz der zehnjährigen Ehe nie. In einer horizontalen Trennlinie sämtlicher Seiten macht Terézia Mora diese Parallele und Beziehungslosigkeit beider überdeutlich.
Auch Wortwahl und Syntax unterscheiden sich bei beiden stark: Kopp erzählt emotional, voller Zwischentöne; von ihm wird teils auch aus der auktorialen Perspektive erzählt; er sieht über sich selbst hinaus, kann andere noch spüren. Flora berichtet mehr, als von sich zu erzählen; andere Menschen scheint sie bestenfalls als austauschbar, schlimmstenfalls als bedrohlich wahrzunehmen; ihr Bericht mutet zunehmend brüchig an und zerfällt zuletzt bis auf Buchstaben.


Dramaturgie
Sowohl das Warten auf eine Erklärung für Floras rätselhafte Krankheit als auch das Warten auf eine Erlösung Kopps von seiner Trauer vermochte einige unter uns beim Lesen bis zum Schluss zu halten.


Themen
Wanderschaft, die teils vergebliche Suche nach Antworten, nach Genesung, nach einer Identität, einem Lebenssinn, nach Arbeit, nach Liebe und Verbindung.


Bewertung
Die Gesamtnote von 2,1 reflektiert die Bewertung des Werks weniger als die Tatsache, dass nur einzelne aus unserer Runde „Das Ungeheuer“ vollständig gelesen haben. Nur ein Mitglied hat die Tagebuchfragmente Floras bis zu ihrem Ende gelesen. Kopps Reisegeschichte ist vergleichsweise lesefreundlich, hat dennoch nur wenige bis zum Schluss gefesselt.


Bei aller Relevanz, die den Themen zugestanden werden mag, und allem Respekt vor der neuartigen formalen Umsetzung dieser Themen, bleibt die mangelhafte Lesbarkeit des Romans geradezu "ungeheuerlich".


Die Auszeichnung mit dem deutschen Buchpreis 2013 stimmte deshalb einige unter uns - die wir uns nicht auf bequeme Literatur beschränkte Leser halten - nachdenklich.

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Buchkritik Uwe Timm: "Vogelweide“

eine bildungslastige Amour Fou, etwas blass
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2013, 336 Seiten


Themen
Im neuen Roman von Uwe Timm geht es um Liebe, Treue und Begehren. Zwei Paare brechen auseinander und gruppieren sich vorübergehend neu. Ausgelöst durch eine ebenso unvernünftige wie unwiderstehbare Begierde wendet sich der Protagonist Christian Eschenbach von seiner Partnerin Selma ab und der gemeinsamen Freundin Anna zu. Anna, Mutter zweier Töchter und glücklich verheiratet mit Ewald, kann nicht anders, als dem Werben von Eschenbach nachzugeben. Ihr Verhältnis wird für ihn zu einer großen Erfüllung. Sie hingegen leidet unter der ihr plötzlich so überdimensional erscheinenden Beliebigkeit des Begehrens. Sie beendet die Amour Fou mit einem Kraftakt, verlässt Mann und Liebhaber und wandert nach Amerika aus. Eschenbach, der zeitgleich auch noch den Konkurs seiner Firma verkraften muss, muss sein Leben neu ausrichten. Von einem Marktforschungsinstitut finanziert beschäftigt er sich nun u.a. mit den Unterschieden von Liebe und Begehren, Ehe und Leidenschaft.


Inhalt
Der Roman "Vogelweide" spielt im Jahr 2011 auf der Insel Scharhörn, auf die sich Eschenbach für einen Sommer als Vogelwart einquartiert hat. Dort erhält er einen Anruf von Anna, die ihn auf der Insel besuchen möchte. Anlässlich des bevorstehenden Besuches kreisen Eschenbachs Gedanken und Erinnerungen um die Erlebnissen von vor sechs Jahren, als seine Affäre mit Anna endete, seine Beziehung mit Selma zerbrach und er mit seinem Unternehmen Konkurs anmelden musste.


Stil & Sprache
"Vogelweide" zeichnet sich durch den ruhigen und schönen Sprachstil von Uwe Timm aus. In Verbindung mit einem geglückten Romanaufbau aus mehrere Zeitebenen und Rückblenden lässt sich das Buch sehr gut lesen. Aber obwohl der Protagonist große Themen bewegt und bewältig (Tod, Konkurs, Verlust, Begierde ..), bleibt für den Leser die Lektüre doch wenig bewegend. Die eigentlich doch so relevanten Themen wirken eher lapidar und belanglos. Die Frauenfiguren im Roman bleiben enttäuschend blass, wenn nicht sogar befremdlich lieblos gezeichnet. Gerne würde man mehr über Anna oder auch Tochter oder Ex-Frau des Protagonisten lesen. Insgesamt wirkt der Plot und insbesondere das dramatische Ende der beiden Paarbeziehungen eher konstruiert. So bleibt im Ganzen der Eindruck eines schönes und leicht lesbaren, aber insgesamt doch eher konstruiert und wenig tiefgründiges Buches bestehen.


Bewertung
In unserem Lesekreis haben wir das Buch insgesamt durchschnittlich bewertet. Zwar wurden Stil und Sprache des Buches positiv bewertet (3,9 Punkten von 5 möglichen Maximalpunkten), dennoch fielen die Bewertungen für Dramaturgie (2,5 Punkte) und Themenauswahl (2,8 Punkte) leicht unterdurchschnittlich aus. Über alle unseren fünf Bewertungskriterien hinweg wurden von uns für Uwe Timms Vogelweide in Summe 3,0 Punkte vergeben.

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Buchkritik Leon de Winter: "Ein gutes Herz“

Diogenes Verlag 2013, 512 Seiten

Spannend, gesellschaftskritisch, phantasievoll
Ein Buch mit Thrillerqualitäten


Der Autor
Leon de Winter, 60, zählt zu den wichtigsten holländischen Gegenwartsautoren. Viele seiner Romane tragen autobiographische Züge, mit einer männlichen, jüdischen Hauptfigur und deren Konflikten mit dem Judentum, Ehe, Treue und einem übermächtigen Vater. Dabei nimmt der Autor zunehmend eine islamkritische Haltung ein. Die Bedrohung der - hier niederländischen - Gesellschaft durch fanatische Muslime ist auch einer der zentralen Handlungsstränge in diesem Buch.


Die Handlung
„Ein gutes Herz“ beginnt dramatisch - mit einer realen Geschichte: der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh durch einen Islamisten. Und es bleibt nicht der einzige terroristische Anschlag, mit dem Amsterdam, dessen Politiker und die verschiedenen Figuren des Buches im Lauf der Erzählung fertig werden müssen.


Theo van Gogh behält auch nach seinem Tod die tragende Rolle der Geschichte. Um in den Himmel zu kommen, muss er sich erst nämlich erst einmal als Schutzengel bewähren. Angeleitet wird er dabei von Mentor Jimmy, einen gutmütigen Franziskanermönch, der es mit der sexuellen Enthaltsamkeit in seinem Leben nicht so genau genommen hat. Jimmys Herz ist auf der Erde geblieben – und schlägt nun in der Brust des charismatischen Max Kohn.


Das Leben des früheren Kriminellen Max Kohn dreht sich vor allem um den Versuch, seine in Amsterdam lebende verlorene Liebe Sonja und seinen Sohn Nathan wiederzugewinnen. Doch die Terroranschläge rund um den jungen, islamistischen Migranten Sallie, der in mehrere Terroraktionen verwickelt ist, bringen für alle Beteiligten zahlreiche Komplikationen mit sich.


Schließlich spielen auch niederländische Politiker ihre Rollen bei der Bewältigung der Terrorkrise, wie Geert Wilders und der Bürgermeister von Amsterdam,Cohen - allesamt reale Figuren der Amsterdamer Politik.


Und noch eine weitere reale Figur gibt es in diesem Buch – einen Autor Leon de Winter, der ebenfalls auf Sonjas Liebe hofft.


Plot & Dramaturgie
Reale und surreale Elemente, Liebesgeschichte und Terrorbedrohung: Die verschiedenen Handlungsstränge rund um die verschiedenen Figuren der Geschichte sind klug miteinander verschachtelt, die Auflösung am Ende so nicht vorhersehbar.


Stil & Sprache
Die Sprache ist flüssig und bildhaft. Dabei scheut Leon de Winter auch nicht vor Alltagssprache zurück – etwa, wenn Theo van Gogh seinen Mörder als Bartaffen abstempelt.


Bewertung
Unsere Runde war gespalten bei der Bewertung des Buches. Die eine Hälfte hat diese phantasievolle und unterhaltsame und oft auch selbstironische Mischung aus Krimi und gesellschaftskritischem Roman sehr gern gelesen. Die anderen fanden den Text aufgeblasen und überladen. Das Gesamtergebnis lag daher bei 3,6 Punkten, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Ned Beauman: "Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort“

Schwarzhumorig, originell, Booker-Prize-Longlist
DuMont 2013, 425 Seiten


Die Story:
Abstrus, pubertär, albern ... Kann uns so Buch gefallen? Es kann! Wenn es sich um „Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort“ von Ned Beauman handelt.


Egon Loeser ist Bühnenbildner in Berlin, wo er eine Vorrichtung zur "augenblicklichen Beförderungen eines Menschen von Ort zu Ort" erfunden hat, deren Einsatz jedoch mit Verletzten endet. Weit stärker als sein Job treibt ihn jedoch die Frage um, wie er es erreichen kann, Adele Hitler („nicht verwandt und nicht verschwägert“) ins Bett zu bekommen, denn dort ist es seit der Trennung von seiner letzten Freundin recht einsam.


Auf der Suche nach Adele kommt Egon über Paris nach Los Angeles, wo er überall Freunde und Bekannte trifft, die vor den Nazis fliehen mussten, was ihn jedoch völlig unberührt lässt. Nachrichten liest er nicht, die deprimieren ihn nur. So nimmt er z.B. an der Bücherverbrennung der Nazis am 10.03.1933 teil, ohne die Bedeutung auch nur ansatzweise zu realisieren.


In Ausschnitten von 1931 bis 1962 erzählt der Roman das Leben eines Egozentrikers an der Grenze zum Unsympathen, dessen Leben zwar durch die Weltgeschichte massiv beeinflusst wird, diese selbst jedoch nur bezogen auf sein eigenes Leben wahrnimmt und so von einer grotesken und peinlichen Situation zur nächsten stolpert – und weiterhin keine Frau in sein Bett bekommt.


Stil & Sprache:
Dabei sprüht der Autor nur vor Ideen, die zwar teilweise tatsächlich abstrus, pubertär und albern sind, jedoch enorm Spaß machen, wenn Egon Loeser z.B. einen Produzenten von Autopolitur kennenlernt, der aufgrund der ständigen Politurdämpfe nicht mehr zwischen Bildern und Realität unterscheiden kann und deshalb nicht nur Fotos von Personen begrüßt sondern auch Bilder von Gurken verspeist.


Weil aber alle wichtigen Themen des Lebens berührt werden, stimmt der Roman trotzdem nachdenklich. Besonders positiv fiel uns auf, dass eine große Anzahl an Handlungsfäden begonnen, jeder davon aber später - meist unerwartet – wieder aufgenommen und zu einem überraschenden Ende geführt wird.


Die Bewertung:
Von acht Lesern aus unserer Gruppe waren sechs von dem Roman sehr angetan, zwei waren unentschieden und ein Mitglied konnte ihm gar nichts abgewinnen, sodass wir insgesamt 3,7 Punkte vergeben.

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Buchkritik Juli Zeh: "Nullzeit“

Leichthändig erzähltes Kammerspiel
Schöffling & Co. 2012, 256 Seiten


Die Geschichte:
Sven, gescheiterter Jurist, betreibt mit seiner Freundin Antje eine Tauchschule auf Lanzarote. Die Beziehung ist abgekühlt, der Alltag ist trist. Das ändert sich schnell, als Jola und Theo auftauchen, die einen 14tägigen Tauchkurs gebucht haben.


Jola, Schauspielerin ohne Durchbruch, und Theo, 42, Schriftsteller mit Schreibblockade, sind ein Pärchen mit Konfliktpotential. Sie bekämpfen sich unentwegt, erniedrigen sich, stellen sich bloß. Während der Tauchgänge entwickelt sich ein Flirt zwischen Sven und der von Selbstzweifeln geplagten Daily-Soap-Darstellerin Jola. Das will Theo nicht hinnehmen. Beim Tauchgang zu einem Wrack, den Sven sich zum 40. Geburtstag schenkt, eskaliert der Konflikt.


Stil, Sprache, Plot:
Die Sprache treibt die Geschichte voran, sie ist dicht und leichthändig, kurze Hauptsätze und kurze Dialoge prägen den Stil. Dabei stellt die Autorin den Flirt aus zwei Perspektiven dar: Svens Erinnerungen und Jolas Tagebuchaufzeichnungen. Der Leser weiß daher nicht genau, was passiert ist. Das ist ein interessanter Kunstgriff, der aber auch verwirrt. Erst Recht nach der Lektüre des Klappentextes, der einen „Psychothriller“ verspricht.


Tatsächlich bekommt der Leser hier zu wenig Psycho und zu wenig Thriller. Stattdessen findet er sich in einem Kammerspiel wieder: Ein kleiner Personenkreis verhandelt einen Problemkern, und alle involvierten Personen erfahren den Konflikt am eigenen Leib – ein Schauspiel in intimen Rahmen.


Hintergründe:
Die Anregung für ihr Buch könnte die passionierte Taucherin Julie Zeh, deren Lieblingstauchspot Lanzarote ist, bei Lotte Hass gefunden haben. Die Biografie der Tauchpionierin aus den 50er Jahren wurde 2010 verfilmt. Yvonne Catterfeld, ehemaliger Daily-Soap-Star, spielt in „Das Mädchen auf dem Meeresgrund“ die Hauptrolle.


Gesamtbewertung:
Die Gruppe hat Punkte von 2,5 bis 4,5 (von 5) gegeben, im Durchschnitt 3,5. Gelobt wurde die genaue Sprache, die Leichtigkeit des Stils und die zu spürende Spannung zwischen den Protagonisten. Eher kritisch betrachtet wurden die Belanglosigkeit des Inhalts und die kleinen „Fehler“ in der Handlung.

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Buchkritik Taiye Selasi: "Diese Dinge geschehen nicht einfach so“

Kraftvolle, prosaische Familiengeschichte
S. Fischer, 2013, 400 Seiten


Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Sai, einer Familie mit afrikanischen Wurzeln, die in Boston lebt, bis dem Vater, einem erfolgreichen Chirurgen, ein Kunstfehler zur Last gelegt wird. Daraufhin verläßt er nach 20 Ehejahren seine Frau und die vier Kinder und kehrt nach Ghana zurück. Die Familie zerbricht daran.


Die Geschichte des Buches beginnt 16 Jahre später mit dem Tod des Vaters, der plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt. Die Familie, die bis dahin überall verstreut war und jeder auf der Suche nach seinem persönlichen Lebensinhalt, nähert sich durch den Tod des Vaters wieder an. Im Haus der Mutter in Ghana, in das sie zurückgekehrt ist, treffen sich alle, um Abschied zu nehmen.


Stil/Sprache:
Der Autorin ist mit ihrem teils autobiografischen Roman ein sprachlich gelungenes Debüt geglückt. Kurze, knappe Sätze wechseln sich ab mit metaphorischen Formulierungen, ohne dabei ins kitschige abzugleiten.


Taiye Selasi prägte den Begriff "Afropolitan" und beschreibt damit jene jüngste Generation afrikanischer und kosmopolitischer Emigranten, die auf die Frage nach ihrer Herkunft keine einfache Antwort kennt. Die in dem Roman beschriebenen Charaktere bringen die Suche nach dem persönlichen Glück glaubhaft nahe.


Plot/Dramaturgie:
Es ist eine Familiengeschichte, die interessant aufgebaut ist. In Rückblenden erfährt der Leser mehr über die Personen, über ihr Leben und ihre Erlebnisse. Gerne hätten einige von uns mehr über die Geschichte Ghanas und Nigerias erfahren.


Gesamtbewertung:
Bei den meisten Leser/innen kam das Buch gut bis sehr gut an. Es erreicht eine Gesamtpunktzahl von 3,3.

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Buchkritik Richard Ford: "Kanada“

Langweilig, uninteressant, unglaubwürdig.
Carl Hanser Verlag, 2012, 464 Seiten


Wir wissen nicht, was die Kritiker bewogen hat, dieses Buch in den höchsten Tönen zu loben. Warum sie gebannt der Handlung folgen, einen Spannungsbogen sehen, plastische Figurenbeschreibungen erkannt haben und schöne Sätze mit ausdrucksstarken Bildern.


Die Meinung unseres Literaturkreises weicht hiervon grundlegend ab und zwar nicht nur vereinzelt, sondern unisono bei praktisch allen Gruppenmitgliedern: Kanada erhält mit 1,5 Punkten von 5 möglichen eine der schlechtesten Bewertungen, die wir in dieser Gruppe seit 3 Jahren und 36 Buchkritiken vergeben haben.


Der Inhalt:
Glaubt man dem Klappentext, dann hat man es hier mit einer dramatischen Entwicklungsgeschichte eines Jugendlichen zu tun, der sich inmitten von Kriminalität und Brutalität behaupten muss. Illegaler Handel, ein Banküberfall, drei Morde. Dells Eltern, so erfährt man, sind nach einem gescheiterten Banküberfall festgenommen worden. Bei Arthur Remlinger kann Dell unterschlüpfen - doch der Besitzer eines heruntergekommenen Jagdhotels erweist sich als ein Mann mit dunkler Vergangenheit.


Liest man das Buch, das aus der Sicht des 60jährigen Ich-Erzählers geschrieben ist, findet sich weder Dramatik noch Katastrophe. Stattdessen serviert der Autor lediglich über und über Details, die weder zur Handlung noch zum Verständnis der Personen beitragen, und wird im zweiten Teil zudem völlig unglaubwürdig, wenn er das Personal des Jagdhotels samt seiner Vergangenheit vorstellt.


Sprache:
Die Sprache ist schlicht. Einfache Satzkonstruktionen, einfache Wörter, und zwischendrin banale Lebensweisheiten des Vaters. “Manchmal können einem schlimme Dinge passieren. Aber man lebt weiter, man steht sie durch.“


Die Erzählkonstruktion ist ermüdend und ärgerlich.


150 Seiten lang warnt der Autor immer wieder, dass und was die Eltern Unvorstellbares tun werden. Um dann im zweiten Teil 150 Seiten lang zu warnen, dass es in Kanada ein ganz schlimmes Ende nehmen wird. In beiden Fällen wird das tatsächliche Ereignis der künstlich aufgebauschten Spannung nicht im Ansatz gerecht.


Novelle hätte genügt
Eine einzige halbwegs kritische Stimme gab es im Reigen der Kritiker. "Die Zeit" fragt, ob die kleinere Prosaform nicht auch für die Geschichte von Dell Parson ausgereicht hätte. In jedem Fall.

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Buchkritik Jenny Erpenbeck: "Aller Tage Abend“

Roman über viele Leben
Spannende Konstruktion –Intensiv-Gegen Ende abflachend
Knaus, 284 Seiten


Die Geschichte:
Ein kleines Mädchen stirbt. Der Vater verlässt daraufhin seine Familie und lässt Frau und Großmutter unversorgt zurück. Die Autorin Erpenbeck fragt nun, was gewesen wäre, wenn das Kind überlebt hätte - und beschreibt die fiktive Zukunft.


Das halbjüdische Mädchen wächst in Wien zusammen mit der (in diesem was-wäre-wenn-Ansatz) intakten Familie auf. Sie verliebt sich unglücklich - und bringt sich um. Und wieder fragt Erpenbeck: Was wäre gewesen, wenn das Mädchen überlebt hätte? Die (nun) junge Frau flieht als aktive Kommunistin vor den Nazis aus Österreich nach Moskau - und wird von den Sowjets hingerichtet. Aber vielleicht ist sie ja doch am Leben geblieben.....


Stil & Sprache:
Die Sprache ist direkt und eindringlich, in der Diktion fast brutal, für den Leser oft kaum erträglich.


Plot & Dramaturgie:
Die Technik, viele Geschichten und Leben ineinander zu verschachteln und zu verweben ist interessant und erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers.


Bewertung:
Die Jury war gespalten bei der Bewertung des Buches, die eine Hälfte hat es gern gelesen, die andere nicht. Der vielschichtige Aufbau der Geschichte und der durchgehende Spannungsbogen fand jedoch mehrheitlich Anklang. Das Gesamtergebnis lag im Schnitt bei 2,5 Punkten, von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Stephan Thome: "Grenzgang“

Die Geschichte


Thome schildert das Leben in einer hessischen Kleinstadt. Nicht chronologisch, sondern immer nur das, was sich an jeweils drei Tagen des „Grenzgang“- Festes, einem alle sieben Jahre stattfindenden Volksfest, ereignet. Insgesamt achtundzwanzig Jahre umspannt der Roman, er begleitet das Leben seiner beiden Haupt-Charaktere von 1985 bis 2013. Was sich in den Jahren dazwischen ereignet, erfahren wir durch die Erinnerungen der beiden Protagonisten.


Unsere Bewertung:


Unisono gefällt uns die Beschreibung und Entwicklung der beiden Haupt-Charaktere, besonders der Frau. Es ist beeindruckend, wie beide es schaffen, sich aus ihren alten Lebensentwürfen zu befreien und einen neuen Lebensabschnitt zu wagen. Auch wenn das kleinstädtische Umfeld bestehen bleibt. Wobei Thome ab und zu auch einfach den Zufall Regie spielen läßt – wie etwa, wenn die demente Mutter der Erzählerin stirbt und sie es so endlich schafft, sich aus der erdrückenden Enge des alten Hauses zu befreien und eine neue Liebe zu leben. Oder wenn sich beide voller Entsetzen in einem Provinz-Swingerclub begegnen – wunderbar beschrieben und für beide tatsächlich der Katalysator, um endgültig zueinander zu finden. Und so ist Grenzgang auch ein Buch über persönliche Grenzen, die jeder der Charaktere irgendwann überschreitet, überschreiten muss, um zum Glück zu finden.


Die Schwächen des Buches:


Die Beschreibung der drei Volksfeste ist zu detailliert und zu lang. Hier hätte Thome kürzen können. Auch die Sprache begeistert nicht durchweg.


Fazit:


"Grenzgang" ist ein Debüt mit einigen Tiefen und sehr vielen Höhen. Bei einer Skala von 1 bis 5 reicht die Bewertung innerhalb der Gruppe von der Höchstpunktzahl (5 = sehr gut) bis zu befriedigend( =3). Fest steht aber: In keinem Fall ist "Grenzgang" ein Roman über das Scheitern, wie es uns die Literatur-Kritik glauben lassen möchte, sondern ein Buch über die zweite Chance, die das Leben bieten kann.


Würden wir dieses Buch empfehlen?


Wir sagen Ja unter den vorab beschriebenen Einschränkungen. Und: Wir würden gerne mehr von Thome lesen.

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Buchkritik Ursula Krechel: "Landgericht“

Aufrührend, sperrig, authentisch - Deutscher Buchpreis 2012
Jung und Jung, 2012, 492 Seiten


Geschichte
1947 kommt Richard Kornitzer aus Kuba, wohin er – aus einer jüdischen Familie stammend – vor den Nazis geflüchtet war, zurück nach Deutschland an den Bodensee. Dorthin hat es seine Frau Claire im Krieg verschlagen. Beide stehen vor dem Nichts. Richard, vor 1933 Gerichtsassessor, war durch die Nationalsozialisten jegliche Tätigkeit in der Justiz verboten worden, Claire wurde ihre Reklamefirma von den Nazis genommen, weil sie sich nicht scheiden lassen wollte; die Kinder der beiden waren 1937 mit einer Hilfsorganisation nach England geschickt worden und wollten nach der langen Zeit nicht zu den Eltern nach Deutschland zurück.


Kornitzer wird eine Stelle als Richter am Landgericht Mainz angeboten, dort stürzt er sich zum einen in seine Arbeit, zum anderen in die Auseinandersetzung mit den bundesrepublikanischen Behörden um sogenannte „Wiedergutmachung“. Dabei verzweifelt er zum einen an einer auf Abwehr gepolten Bürokratie, zum anderen an seiner eigenen Unerbittlichkeit.


Stil & Sprache
Leichtgängig ist dieses Buch nicht, Ursula Krechel schreibt ist kühl und voll von Klammertexten, Rückblenden, Wechsel der Erzählzeiten und unzähligen Wortlauten der Briefe, die Kornitzer mit den Behörden wechselt.
Auch wenn uns dies teilweise etwas sperrig erschien, haben wir Stil und Sprache durchgängig als dem Thema angemessen empfunden.


Themen des Buches
Ursula Krechel erzählt hier sehr frei und mit deutlichen Abweichungen die Lebensgeschichte eines Mannes, auf den sie bei der Recherche zu ihrem Roman „Shanghai fern von wo“ aufmerksam wurde.


„Landgericht“ behandelt, wie bereits im Titel angedeutet, zum einem den Umgang der Justiz mit ihren während der NS-Zeit ausgeschlossenen und verfolgten und zurückgekehrten Mitgliedern, wobei die Justiz sicher exemplarisch für einen großen Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft stehen kann.


Daneben geht es um das „Gericht“, das der zurückgekehrte Kornitzer über sein Land hält und an dem er aufgrund seiner Hartnäckigkeit verzweifelt. Ob er dabei die Verhältnismäßigkeit verliert oder ob seine Verbitterung verständlich ist, wurde von uns sehr kontrovers diskutiert.


Bewertung
Das Thema des Buches wurde von allen Mitgliedern als sehr interessant bewertet, lediglich die Schilderung von Kornitzers Leben auf Kuba hatte in unseren Augen einige Längen. Bemängelt wurde, dass sich das Buch zum Ende nur noch auf Kornitzers Bemühen um „Wiedergutmachung“ konzentriert und so die Geschichte von Claire und den beiden Kindern nicht auserzählt wird. So oder so lohnt das Durchhalten: Ursula Krechel gelingt ein perfektes, dramatisches und erschütterndes Finale des Buches.


„Landgericht“ wurde von uns mit einer Ausnahme sehr gut bewertet, ein Mitglied vergab 5 von 5 möglichen Punkten; unsere Durchschnittsnote ist eine 4,3.

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Buchkritik Stephan Thome: "Fliehkräfte“

Suhrkamp Verlag, 2012, 474 Seiten
Stilistisch schön, aber wenig interessant


Die Geschichte:
"Fliehkräfte" handelt von einem Professor Ende 50, dessen Leben und Ehe in eine Krise geraten ist. Auf einer Reise von Deutschland nach Portugal trifft Hartmut Hainbach alte und neue Freunde und grübelt darüber nach, wie es weitergehen soll.


Seine Ehefrau Maria ist vor zwei Jahren von Bonn nach Berlin gezogen. Er leidet unter der Trennung: eine Wochenendbeziehung ist nicht das, was er unter seiner Ehe vorgestellt hat. Eventuell kann er in Berlin eine neue Stelle bei einem kleinen Verlag aufnehmen. Zwar ist Professor Hainbach mit seiner Arbeit in Bonn zutiefst unzufrieden - aber für die sich öffnende berufliche Chance in Berlin müsste er seine Professur nebst Rentenansprüchen aufgeben. Will er das?


Der Anspruch:
Fliehkräfte" wird in den Feuilletons als gelungenes "Sittengemälde der Republik" (Süddeutsche Zeitung) gelobt. Dem Autor werden Sprachgewandtheit, natürlich wirkende Dialoge und Entwürfe starker Figuren zugesprochen. Das Buch sei eine präzise Ausleuchtung der "Abgründe einer typisch deutschen Familie aus dem akademischen Establishment" (FAZ).


Unsere Bewertung:
In unserem Lesekreis teilen wir das Lob der Feuilletonisten nur bedingt. Zwar finden auch wir das Buch leicht und gut zu lesen, Stephan Thome schreibt gekonnt. Aber interessant? Interessant fanden wir das Buch nicht.


Hartmut Hainbach bei seiner Lebenskrise zuzuschauen ist nur bedingt fesselnd. Es fehlt an Dramaturgie und Spannung, der Held des Buches ist wenig sympathisch. In Summe vergaben wir in unserem Lesekreis indifferente 2,5 Punkte (von möglichen 5), in denen sich der Eindruck eines etwas vor sich hin dümpelnden, wenn auch schön geschriebenen Buches widerspiegelt.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Clemens J. Setz: "Indigo“

Experimentell, spannend, gruselig
Suhrkamp, 479 Seiten


Inhalt
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren (Relokationen). Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt zunächst nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen.


Fünfzehn Jahre später (2021) berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal ermordet zu haben. Doch der Vorwurf klebt, ebenso wie der des Alkoholismus, weiter an Setz.


Die Geschichte eines seiner ehemaligen Schüler, Robert Tätzel, ist mit der Recherche des Lehrers in Sachen der Indigokinder verflochten, wobei der Erzählstrang über den Lehrer sich zeitlich auf den des 2021 erwachsen gewordenen, „ausgebrannten“ Indigos Robert zubewegt. Beide treffen sich am Ende, dessen Tragik in der Kommunikationsbarriere besteht: Der Lehrer ist 2021 zu verrückt für das Gespräch geworden, das der Schüler 2007 wegen des Indigosyndroms noch nicht mit ihm führen konnte.


Stil & Sprache
Setz‘ Diktion, überzeugend in direkter und indirekter Rede, hat uns gut gefallen und das Kriterium der Lesbarkeit allemal efüllt. Ungewöhnlich, und damit für manchen auch gewöhnungsbedürftiger, ist die experimentelle Struktur, in der Setz mit täuschend echten „Originaldokumenten“ den Wirklichkeitsbegriff eines jeden ad absurdum zu führen versucht.


Dramaturgie & Plot
Die Eigenart der Andeutung, nach dem Vorbild der klassischen Gruselgeschichte, betrifft bei Setz ganze Handlungsstränge und zerrt an den Lesernerven – dies ist übrigens ein erklärtes Ziel des Autors. Zeitsprünge, Rechercheschnipsel und verschlungene Fährten fordern – nicht gerade entspannend, aber spannend.


Themen des Buches
Das Themenspektrum ist nichts für zarte Gemüter und hat den ein oder anderen bewogen, das Buch entweder frühzeitig aus der Hand zu legen oder Passagen zu überspringen. In beunruhigend wenig absurden Zukunftsvisionen zeigt Setz Sadismus gegen Menschen und Tiere, der unter allerlei Deckmänteln, oft auch unverborgen daherkommt. Di autismusähnliche Kinderkrankheit und deren soziale Quarantäne, fatale Annäherungsversuche Kranker untereinander, Kranker und Gesunder, Gesunder und Rekonvaleszenter, trotz der erzwungenen Distanz, (Selbst-)mord, Verschwinden und dessen Aufklärungsversuche, die ins Irrsein führen – wer sich auf avantgardistische passt-in-kein-Genre-Weise gruseln will, ist bei Setz richtig.


Die Bewertung
An diesem Roman scheiden sich die Gemüter - das aber auf hohem Niveau, wie unsere Durchschnittsnote von 3,5 zeigt.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Vea Kaiser: "Blasmusik Pop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“

Lektüre lohnt nicht
Kiepenheuer und Witsch, 492 Seiten


Die Geschichte:
Vea Kaiser erzählt die Geschichte eines Dorfes in den Bergen, die der Bergbarbaren von St. Peter am Anger.


Gegen Engstirnigkeit und unreflektierten Traditionssinn hegt der Arzt genauso, wie sein Enkel gleichen Namens eine tiefe Abneigung.


Als Johannes aus Starrköpfigkeit durch das Abi rasselt, beginnt er sich mit seinem Dorf auseinanderzusetzen. Er orientiert sich an seinem Vorbild Herodot, der auch zu Beginn eines jeden Kapitels zitiert wird. Er verstrickt sich in seine erste Liebesgeschichte und initiert unfreiwillig ein sportliches Großereignis….


Stil & Sprache:
Die Sprache ist einfach, teilweise mundartlich, die Beschreibungen oft gut gelungen.


Plot & Dramaturgie:
Der Plot wirkt antiquiert, die Geschichte scheint aus den 1960ger Jahren zu stammen. Die Jury empfand das Buch mehrheitlich als lapidar, kitschig, zu lang und ohne Tiefgang. Mehr als die Hälfte der Leserinnen und Leser hat das Buch nicht zu Ende lesen wollen.


Bewertung:
Das Buch wird mit zwei von fünf Punkten bewertet und von den meisten Shortlistmitgliedern nicht als Lektüre empfohlen.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Germán Kratochwil: "Scherbengericht“

thematisch vielversprechender, authentischer Familienroman
Picus Verlag Wien 2012, 312 Seiten


Die Geschichte
Unter dem blühenden Lindenbaum eines idyllischen patagonischen Landguts treffen zur Jahrtausendwende zwölf Personen aus drei Generationen aufeinander, um den 90sten Geburtstag der Familienpatriarchin Clementine zu feiern.


Die Gästeschar könnte unterschiedlicher nicht sein und doch vereint sie die gemeinsame Vergangenheit der Auswanderung und Emigration aus einem aus den Fugen geratenen Europas: So reicht die Geschichte der Jubilarin Clementine, ihres Sohn Martin, der Enkel Katha und Gabriel und der anderen Gäste von dem Wien der Kaiserzeit über die Nazijahre hin zum Familienexil in Patagonien. In der kargen Landschaft Patagoniens sehen sich die Gäste nicht bloß mit ungelösten Familienproblemen, sondern auch mit den Geistern der jüngsten Vergangenheit konfrontiert.


Stil & Sprache
Der Autor Germán Kratochwil beweist ein sicheres Gespür für den Sprachduktus von Menschen verschiedenster Herkunft, Mentalität und Generation. Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen aus Österreich geflohen oder ausgewandert sind, resümieren ihr 20. Jahrhundert, und für alle findet Kratochwil eine eigene Stimme.
Jede Episode hat eine eigene Erzählfarbe, ohne jedoch aus dem schlichten Sprachstil wirklich auszubrechen. Dabei bleibt die Frage offen, inwiefern die (teilweise) Überzeichnung der Charaktere und eine spürbar ironische Distanz des Autors zum Geschehen unbewusst stattfindet oder doch beabsichtigt ist.


Plot & Dramaturgie
In „Scherbengericht“ kommen an die dreißig Personen vor, dank des narrativen Geschicks des Autors, verliert man jedoch nicht den Faden und bleibt immer in der Handlung. Die Erzählweise ist eher auf die Beschreibung der jeweiligen Rückblenden und Einzelschicksale ausgerichtet als auf das tatsächliches Vorantreiben der Handlung in der Gegenwart des Festmahls. Kratochwil bettet mühelos historische Informationen in die vielen Familienerzählungen ein, schließlich ist der 70-jährige Autor als Kind selbst nach Argentinien ausgewandert.


Trotz einer gewissen Leichtigkeit, mit der Kratochwil die Geschichte der Vergangenheit erzählt, schafft er einen Spannungsbogen bis hin zum gegenwärtigen Geschehen.


Unsere Bewertung
In unserer Runde haben zwölf Jurorinnen Wertungen von 0 (schlecht) bis 4,5 (von 5 Punkten als Höchstwertung) erteilt. Die Durchschnittsnote liegt bei 3, wobei Stil/Sprache sowie das Thema besser bewertet wurden als die Konstruktion und Dramaturgie des Romans.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Véronique Olmi: "In diesem Sommer“

Paare in der Krise. Leichtes für den Strand.
Verlag Antje Kunstmann, 2012, 272 Seiten


Die Geschichte
Drei Paare treffen sich in einem Ferienhaus in der Normandie, um wie jedes Jahr den französischen Nationalfeiertag gemeinsam zu feiern.
Delphine und Denis, das Gastgeber-Ehepaar und Eltern von Alex und Jeanne, haben sich mit dem Haus in der Normandie vor Jahren einen Traum erfüllt.
Ihre Gäste sind - wie jedes Jahr - Nicolas und Marie, er Lehrer, sie Schauspielerin und die Journalistin Lola, mit ihrem aktuellen Freund Samuel.
Und so verbringen alle das lange Wochenende auf der Terrasse über dem Meer, beim gemeinsamen Essen im Schatten der großen Kiefer, beim Tennis, schwelgen in Erinnerungen und versuchen ihre vertrauten Rituale zu bewahren, führt ihnen doch das Alter der Kinder vor Augen, wie viel Zeit vergangen ist.


In diesem Jahr ist alles anders: Die Gastgeber stehen kurz vor der Trennung und schaffen es nicht mehr, miteinander zu kommunizieren, ohne die schwelende Aggression spüren zu lassen. Nicolas und Marie schützen sich mit ihrer Liebe vor der traurigen Realität seiner Depression und ihres Karriereendes. Schließlich scheint Lola's Lover ernstere Absichten zu haben, als sie es sich von ihm wünscht.
Und dann taucht noch der rätselhafte junge Dimitri auf, der jedem eine andere Geschichte erzählt und großes Interesse an Jeanne hat. Oder doch nicht?


Stil und Sprache
Kurze Szenarien zu Beginn stellen uns die Protagonisten vor und stimmen uns kurz und knapp auf die Geschichte ein. Vielversprechend! Leider verliert die Geschichte an Tempo, die anfänglich aufgebaute Spannung verliert sich in der französischen Sommerhitze.


Véronique Olmi, eine der bekanntesten Dramatikerinnen Frankreichs, versäumt es, der Geschichte den gewünschten Tiefgang zu verleihen. Auch wenn sie uns hinter die Fassaden der einzelnen Protagonisten blicken lässt, bleibt die wirkliche Wendung aus und uns der Blick in die Seelen verwährt. Das Buch lässt sich einfach lesen und bringt nicht die erwarteten Überraschungen, auf die man, nicht zuletzt durch Dimitris Rolle, gehofft hat.


Unsere Bewertung
So leicht und unspektakulär wie die Geschichte größtenteils empfunden wurde, ist auch unsere Bewertung ausgefallen. Die Noten reichen von 0 (schlecht) bis 5 (sehr gut):


  • Stil und Sprache: 3
  • Konstruktion/Aufbau der Story: gute 3
  • Thema interessant: 3
  • Dramaturgie/Spannung: 2
  • Gern gelesen: 3

Diese fünf Unterpunkte münden in einer guten 3 als Gesamtbewertung.

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Buchkritik Toine Heijmans: "Irrfahrt“

Leichte, unspektakuläre Lektüre
Arche Verlag, 2012, 160 Seiten


Die Geschichte
In dem Roman nimmt sich ein Mann eine dreimonatige Auszeit und erfüllt sich einen Traum. Er unternimmt einen Segeltörn auf der Nord- und Ostsee. Für die letzten beiden Tage seines Segeltörns nimmt er seine sieben Jahre alte Tochter mit an Bord.


Donald, der Skipper, zelebriert seine Glücksmomente auf hoher See, die Unbeschwertheit und die Nähe zur Tochter. Und doch lesen wir aus den Gedankengängen des Protagonisten heraus, unter welchem Druck er in seinem Leben steht. Druck ein guter Vater sein zu wollen, ohne recht zu begreifen, was das eigentlich ist. Druck in der Firma, in der Karriere ohne ihn stattgefunden hat und Druck in seiner Beziehung, zu der er sich erst nach langer Zeit auf See langsam wieder zurück sehnt. Auch seine Ansprüche an sich selbst als guten Skipper kann er nicht erfüllen. Zunehmend läuft ihm sein Törn aus dem Ruder. Und dann zieht auch noch ein Sturm auf, bisher unbemerkt, alles entgleitet ihm.


Stil und Sprache
Das Buch von Toine Heijmans ist einfach. Die Sprache ist sehr schlicht, die Sätze sind kurz und einfach gehalten. Das mag eventuell dem Sujet geschuldet sein um die zunehmende Weltabgewandtheit des Protagonisten darzustellen. Es lässt aber den Roman auch als einen Jugendroman erscheinen. Der Plot ist spannend - die Tochter verschwindet im Sturm, ist sie über Bord gegangen? - aber die Auflösung ist (wenn auch in seinem Twist für den Leser überraschend) so doch sehr einfach hergeleitet. Die 160 Seiten, eher eine Novelle denn ein Roman und zudem hübsch bebildert, lesen sich leicht.


Unsere Bewertung
In unserem Leserkreis wurde das Buch unspektakulär aufgenommen: ein Text, der nicht wehtut, den man lesen kann aber nicht muss. Unsere Bewertungen pendelten größtenteils zwischen 2,5 und 3,5 Punkten.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Thomas von Steinaecker: "Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen“

Eigenartiger bis surrealer Karriere-Roman
S. Fischer, 2012, 389 Seiten


Die Geschichte:
Renate Meißner, Managerin bei der Cavere Versicherung wird nach München versetzt. Diese Karrierefrau, die perfekt gestylt durch Ihr Leben stöckelt, ist über eine Affäre mit einem Ihrer Chefs gestolpert. RM ist zerrissen zwischen ihrem äußeren Auftreten und Ihren inneren Konflikten, ein fast tragische Figur. Angst und Einsamkeit werden im Beruf mit statistischen Elementen kaschiert, ihre Einsatzfähigkeit wird mit Tabletten aufrecht erhalten. Der Tod der Mutter und das Verschwinden des Liebhabers aus Ihrem Leben ziehen ihr den Boden unter den Füssen weg. Mit der Sicherheit entgleitet ihr auch die Realität. Die Paranoia wird durch Renates Künstler-Freundin und deren Happenings genährt, die die Grenzen zwischen Aktion und Kunst verschwimmen lassen. Die Geschichte gleitet endgültig ins Surreale ab, als RM nach Russland reist, um die Versicherung eines Vergnügungsparks einzuleiten.


Stil & Sprache:
Der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Steinaecker versucht die Diktion der Versicherungswirtschaft nachzuahmen. Die Sprache ist einfach und direkt und gleitet zeitweise ins Vulgäre ab.


Plot & Dramaturgie:
Der Plot ist interessant, die Figuren glaubwürdig. Das Buch spielt vor dem Hintergrund der beginnenden Finanzkrise. Etwas skurril sind die Unterbrechungen durch Bilder, Zettel sowie die Fußnoten wie „High Heels tragen“.


Gesamtbewertung:
Zehn Juroren unserer Gruppe haben Wertungen von 1 bis 3,5 (von 5 Punkten als Höchstwertung) erteilt. Die Durchschnittsnote liegt bei 2,5. Die Bewertung reicht von „fesselnd“ und „authentisch“ bis zu „simple Sprache. Man musste sich zwingen, weiterzulesen“. Wer sich informieren will, wie die Versicherungswirtschaft tickt, hat hier jedenfalls die passende Lektüre.

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Buchkritik Annette Pehnt: "Chronik der Nähe“

Verwirrende Mutter-Tochter-Beziehungen
Piper Verlag, 2012, 224 Seiten


Annette Pehnt erzählt in „Chronik der Nähe“ von drei Frauengenerationen. Großmutter, Mutter und Tochter. Beschrieben werden die Lebensumstände und Lebensverläufe aus zwei Perspektiven - aus der der Mutter Annie und aus der Ich-Perspektive, der Tochter. Die erzählte Zeit reicht von den Kriegswirren bis in die Gegenwart.


Sowohl die Großmutter als auch Annie sind zwar aktive Frauen, stellen sich jedoch gegenüber ihrer jeweils einzigen Tochter immer als Leidende dar. Sie behandeln sie nicht wie Kinder, sondern überfordern sie mit Vorwürfen und den eigenen Wünschen nach Bestätigung. Weder Freunde noch Männer spielen eine Rolle.


Einzig die Ich Erzählerin scheint ein innigeres Verhältnis zu ihrem Ehemann zu haben. Doch sie ist nicht die große Heldin des Romans. Im Gegenteil. Im Vergleich zu der Geschichte ihrer Großmutter, die während und nach dem Krieg unter abenteuerlichen Umständen Geld und Lebensmittel für sich und ihr Kind organisiert, wirken die zwei anderen Frauenfiguren (eine Hausfrau der siebziger und eine Akademikerin der Gegenwart) ziemlich uninteressant. Dennoch hat nur die Großmutter, bei der man als einziges noch ein paar nicht auserzählte Geheimnisse vermuten kann, keine „eigene Perspektive“ und wird dem Leser nur durch die Erzählungen von Annie nähergebracht.


Generell war unser Eindruck, dass die Spannung zum Ende des Romans nachlässt. Die Handlung hat keinerlei unerwartete Wendung, sondern ist eine oft auch verwirrende Aneinanderreihung von diversen Szenen von emotionaler Erpressung in den drei Generationen.


Einige von uns fanden den Stil des Textes interessant – andere hingegen sahen darin ein schlechtes Tagebuch. Insgesamt schien uns „Chronik der Nähe“ vorwiegend ein Buch für Töchter zu sein, die mit ihren Müttern hadern und kein Sachbuch, sondern einen Roman zu dem Thema lesen wollen. Fest steht auch: Andere Bücher von Annette Pehnt haben uns deutlich besser gefallen.

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Buchkritik Anna Katharina Hahn: "Am Schwarzen Berg“

Dramatisch, präzise, dabei leicht und schön zu lesen.
Suhrkamp, 2012, 236 Seiten


Emil und Veronika Bub haben die Hoffnung auf ein eigenes Kind aufgegeben müssen. Als der ehrgeizige Arzt Hajo Rau mit seiner Frau und ihrem neunjährigen Sohn Peter im Nachbarhaus einziehen, wird der Junge für das kinderlose Ehepaar Bub zu einem Ersatzsohn. Der Lehrer und Mörike-Verehrer Emil und seine Frau Veronika knüpfen mit kleinen und großen Kniffen den Nachbarssohn eng an sich - Peter wächst gleichsam mit zwei Elternpaaren auf. In dieser Konstellation entwickelt er sich zu einem Mann, der die ehrgeizigen Lebensziele seiner Eltern nicht übernimmt. Er macht sich nichts aus Besitz und Karriere. Lieber möchte er sich intensiv um seine beiden Söhne kümmern als eine Teilhaberschaft in der Logopädie-Praxis zu übernehmen, in der er angestellt ist. Für seine Ehefrau Mia, die als Tochter einer allein erziehenden Putzfrau aufwuchs und sozial aufsteigen möchte, wird seine Leistungsverweigerung im Lauf der Jahre unerträglich.


Der Roman "Am Schwarzen Berg" von Anna Katharina Hahn beginnt kurz vor dem Ende: Peter wurde vor wenigen Wochen von seiner Frau verlassen und dadurch psychisch und physisch aus der Bahn geworfen. Sowohl seine Eltern als auch seine Zieheltern aus dem Nachbarhaus versuchen, ihn aus seiner Depression zu befreien. In eingeschobenen Rückblenden erinnern sich Emil und Veronika an frühere Erlebnisse mit Peter. In den beiden vorletzten Kapiteln des Buches kommt Mia zu Wort. Aus ihrer Sicht wird die Entwicklung und das Scheitern der Ehe beschrieben. Im letzten Kapitel bringt die Autorin ihre Geschichte um Peter und seinen beiden Elternpaaren gekonnt zu einem dramatischen Ende.


Stil & Sprache:
Der Schreibstil der Autorin hat uns mehrheitlich sehr gefallen. Die Beschreibungen der Wohnsiedlungen in den Vororten von Stuttgart, die Darstellungen der lauen Sommerabenden in den kleinen Gärtchen vor den Einfamilienhäusern und auch das Ringen der beiden Elternpaare um ihr eigenes wie auch Peters Gleichgewicht sind fast schon poetisch. Die präzisen Beschreibungen von Stimmungen und Situationen sind leicht und schön zu lesen.

Störend allerdings empfanden wir teilweise die detailreichen und häufigen Hinweise auf Straßenzüge und -namen der Stadt Stuttgart. Auch die umfassenden Mörike-Passagen, in denen die Verehrung Emils zu dem schwäbischen Dichter ausgebreitet werden, sind wir etwas zu langatmig geraten.


Themen des Buches:
Die Autorin selber hat ihr Buch mit den Worten angekündigt "Es geht um die Liebe zwischen zwei Männern, eine Art Wahlverwandtschaft. Es geht um zwei Generationen und ihre Sehnsüchte. Es geht um Mörike und wieder um Stuttgart, mein ganz eigenes Stuttgart".


Diese Themen haben wir in dem Buch von Anna Katharina Hahn zwar wiedergefunden, fanden aber andere Handlungsstränge wesentlich vorherrschender: die erdrückende Liebe zweier Elternpaare auf ein Kind, die Obsession eines kinderlosen Paares mit dem Ersatzsohn und die sich über Generationen hinweg wiederholende Geschichte eines im Grunde narzisstischem Verhältnisses von (Ersatz-)Vater zu Sohn.


Die Bewertung:
In unserem Kreis wurde das Buch fast ausnahmslos gerne gelesen. Die Bewertungen spiegeln das wider: fast alle abgegebene Werte liegen zwischen 3 und 4 Punkten.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Olga Grjasnowa: "„Der Russe ist einer, der Birken liebt“

Sprachstark, mitreißend, konfliktgeladen
Hanser-Verlag, 2012, 288 Seiten.


Die Geschichte: Gut lesbar mit starkem Auftakt

Die aus Aserbaidschan stammende jüdische Sprachstudentin Mascha Kogan lebt mit ihrem Freund Elias in Frankfurt am Main. Als Elias völlig unerwartet stirbt, fühlt Mascha sich nicht nur verantwortlich. Sein Tod bricht in Mascha auch alte Wunden auf. In ihrer Kindheit war sie Zeuge von Progromen. Insbesondere ein Erlebnis hat sie zutiefst verstört. Nach Elias Tod verliert sich Mascha in einer zunehmend depressiven, desorganisierten Gemütsverfassung. Auch ihre beiden besten Freunde, der Araber Sami und der Türke Cem, vermögen sie kaum zu motivieren. Aller Ehrgeiz und alle berufliche Zielstrebigkeit kommen der hochintelligenten jungen Frau abhanden. Mit letzer Kraft schafft sie ihren Studienabschluss und zieht nach Tel Aviv, um dort zu arbeiten und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eine Flucht ohne den erhofften Ausweg.


Themen des Buches: Fremdenfeindlichkeit, Nahostkonflikt und Progrome, Suche nach der Identität

Zwischen dem Leben der Autorin und ihrer Romanfigur gibt es viele Parallelen. Mit diesem Wissen wirken viele der Szenen und Themen beklemmend, denn sie zeigen ein sexistisches und in hohem Maße ausländerfeindliches Deutschland. Auch die blutige Gewalt und Grausamkeit, die Mascha als Kind erlebt hat, erschrecken. In Rückblicken erzählt Mascha von einer entsetzlichen Zeit in Aserbaidschan. Dieser sinnlosen Gewalt begegnen Mascha und der Leser auch in Israel wieder.


Die Bewertung: sprachgewaltig, aber nicht in allen Szenen und Figuren überzeugend

Die ersten 100 Seiten des Debütromans von Olga Grjasnowa bis zum Tod von Elias sind bewegend und mitreißend. Die in der Folge immer zahlreicher auftauchenden Figuren sind innerhalb unseres Lesekreises allerdings unterschiedlich bewertet worden: von "völlig überzeichnet" bis hin zu "wunderbar treffend geformt“. Die Meinungen zu dem Schreibstil reichten von „sprachgewaltig“ und „großartig“ bis zu „eher mäßig“. Die Vielzahl der Themen, die in dem Roman aufgegriffen werden, konnte die einen anregen und begeistern, auf andere wirkten die vielen Schwerpunkte von Identität, Nahostkonflikt und posttraumatischer Störung lediglich angerissen und wenig ausgearbeitet.


Unsere Bewertungen des Romans von Olga Grjasnowa spiegelten dieses heterogene Bild wieder: Mit der Vergabe von schwachen 2 Punkten bis hin zu starken 4,5 Punkten kamen wir auf eine Durchschnittsbewertung von 3,5 von 5 möglichen Punkten.

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Buchkritik Eugen Ruge: "„In Zeiten des abnehmenden Lichts““

Sympathisch, stil- und pointensicher, bewegend
Rowohlt Verlag, 2011, 432 Seiten,


Geschichte & Inhalt:
Ruge ist ein Meister der Sprache. Jedes Wort, jeder Satz, jeder Einschub macht dieses Buch zum intelligenten Lesevergnügen. Schon das erste der 20 Kapitel, in dem Alexander seinen dementen Vater in der früheren DDR besucht, macht süchtig. Man will mehr wissen von dieser Familie, von ihrem Schicksal, von Alexander und seiner Familie.


Der demente Kurt war in früheren DDR-Zeiten eine wichtige Figur. Seine Frau Irina hat er in der russischen Gefangenschaft kenngelernt. Und doch kann er sich zeitlebens nicht von seinem Vater, dem alten Patriarchen Wilhelm, abnabeln. Ruge erzählt die Geschichte dieser drei Generationen aus immer wieder wechselnden Perspektiven der Familienmitglieder bis hin zum koksenden Berliner Schüler, Alexanders Sohn. Rückblicke wechseln sich mit aktuellen Zeitaufnahmen ab.


In nahezu allen dieser 20 Kapitel und Geschichten spielt die Anpassung der Familienmitglieder an das politische System und seine Anforderungen mit hinein - damals wie heute. Etwa, wenn Irina, Kurts Frau, mit ausgesprochen gewitzen Methoden im Mangelsystem der früheren DDR die Lebensmittel für ihre jährliche Weihnachtsgans beschafft. Oder Kurt entscheiden muss, wie er mit einem von der Partei verstoßenen Kollegen umgeht. Dennoch ist "„In Zeiten des abnehmenden Lichts“" kein politisches Buch. Es beschreibt, ohne zu werten, das Überleben wollen jedes Einzelnen vor dem politischen Hintergrund eines immer mehr zerfallenden Ostblocks.


Stil & Sprache:
Schon die ersten Sätze jedes der 20 Kapitels sind perfekt:  „"Vor zehn Jahren, auf den Monat genau, waren sie aus Rußland gekommen“. „Manchmal vergaß er, was zu tun war."“ Ruge erzeugt so vom ersten Moment an Spannung und hält diese konsequent jedes Kapital durch. Dazu kommt ein ausgesprochen abwechslungsreicher Satzbau. Lange Sätze, Einschübe, Doppelpunkte, Klammern:  Ruge handhabt Tempi, Schnitt und Dialoge souverän. Zudem verzichtet der Autor auf Adjektive, erzählt stattdessen, was er sieht und erlebt,– etwa, wie Kurt frisch „gewaschen und zähnegeputzt duftet. Und er beherrscht es meisterhaft, innere Dialoge widerzugeben.


So lebt und leidet und hofft der Leser mit jedem der Familienmitglieder - wider besseres Wissen: "„Nein, sie hatten sich nicht geirrt. Es gab ein Röntgenbild. Es gab ein CT. Es war klar. Krebs, langsam wachsender Typ. Gegen das es –- wie taktvoll ausgedrückt -– bis heute keine wirksame Therapie gäbe."


Bewertung:
Wir haben das Buch ausnahmslos gern gelesen. Besonders die Erzählstruktur des Autors, der das gleiche Geschehen aus der Sicht mehrerer Personen schildert, hat uns gefallen. Lediglich den oft zitierten Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrooks fanden wir etwas zu hoch gegriffen.

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Buchkritik Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe“

sprachlich überzeugend, vergnüglich-grausam, schnörkellos

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 222 Seiten


Die Geschichte:
Inge Lohmark, 55, ist seit über dreißig Jahren Gymnasial-Lehrerin für Biologie und Sport in einer Kleinstadt im vorpommerschen Hinterland. In den drei Teilen des Romans wird jeweils ein Tag im Schuljahr der Protagonistin geschildert. Diese unterrichtet nicht nur Biologie und Sport. Sie hat sich völlig in einem biologistischen Weltbild eingerichtet, in dem ausschließlich das Recht des Stärkeren regiert.   


Schüler haben sich daher anzupassen, sind notwendiges Übel und werden von ihr kalt bis grausam behandelt, „Verlierer“ rücksichtslos bloßgestellt. Dabei ist die Zukunft von Inge Lohmark ungewiss: In der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an genau diesen Kindern, und in Kürze wird die Schule geschlossen werden.


Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße und ist wenig präsent in Lohmarks Leben. Ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat sich von der Mutter sowohl räumlich als auch menschlich distanziert. Im Zeitverlauf des Schuljahres erleben wir, wie die Brüche in Inge Lohmarks Welt immer offensichtlicher und die Risse in ihrem Weltbild immer tiefer werden.


Das Buch:
Schalansky, gelernte Typographin und Buchgestalterin, hat ihr Buch mit detaillierten und liebevollen Zeichnungen von Tieren und Organismen angereichert. In den Seitenköpfen sind die Kapitelüberschriften der drei geschilderten Tage, "Naturhaushalte", "Vererbungsvorgänge" und "Entwicklungslehre" aufgeführt sowie wechselseitig kapitelähnliche Begriffe, allesamt ebenfalls der Welt der Biologie entliehen. Insgesamt erinnert das Buch mit seinem grauen Leinendeckel an eine alte DDR-Ausgabe oder an ein Buch aus den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es macht Spaß, das Buch in der Hand zu halten und aufzuschlagen.


Bewertung:
Wir haben das Buch gerne gelesen. Die Hoffnungslosigkeit der Schulprovinz ohne Zukunft ist von der Autorin sehr eindringlich beschrieben. Den brilliant formulierten, teilweise sehr gehässigen Gedankengängen der Protagonistin gegenüber ihren Schülern und Kollegen folgten wir mit einer Mischung aus Grausen und Faszination. Gegen Ende des Buches erschöpfte uns teilweise die Trostlosigkeit des Weltbildes der Lehrerin, da weder Entwicklung noch Katharsis absehbar sind. Der Untertitel des Romans "Entwicklungsroman" wird diesbezüglich ad absurdum geführt. Wir vergeben in gewohntem Bewertungsschema von 1 bis 5 Punkten (Bestnote) insgesamt 3,4 Punkte.

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Buchkritik Edmund de Waal: "Der Hase mit den Bernsteinaugen“

Historisch interessant, gut lesbar, stimmig

Zsolnay, 2011, 352 Seiten


Die Geschichte:


Edmund de Waal ist ein direkter Nachfahre der jüdischen Bankiersfamilie Ephrussi, die es über Generationen hinweg in Europa zu großem Reichtum brachte. Er verfolgt die Geschichte von 264 Netsuke,-kleinen geschnitzten, japanischen Kostbarkeiten.
Seine Erzählung beginnt mit Charles Ephrussi, der die Netsuke in Paris erworben hatte. Dieser Charles war nicht nur Bankier, wie die meisten Mitglieder der Familie Ephrussi, sondern auch Kunsthistoriker, Herausgeber einer Zeitung und Mäzen der Pariser Impressionisten und Freund von Marcel Proust. Die Dreyfusaffäre, die unfassbare 12 Jahre währt, bringt die Juden und auch Charles in Mißkredit.
Die Netsuke werden als Hochzeitsgeschenk nach Wien gesandt, für Victor und Emmy, die in Wien in einem Palast residieren. Sie leben als reiche, angesehene Angehörige des Adels ohne Sorgen und Zukunftsängste. Die Vitrine mit den Netsuke hat jetzt seinen Platz im Ankleidezimmer von Emmy gefunden. Ihre Kinder haben nutzen sie fantasievoll als kleine Spielzeuge.


Der Erste Weltkrieg mit dem nachfolgenden Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie leitet den Niedergang der Familie Ephrussi mit Ihrem Familiennetzwerk in halb Europa ein. Aus Russland und anderen Landesteilen des Ostens kommen die „Ostjuden“ nach Wien. Bei lautstarken Demonstrationen wird nun gegen Juden gehetzt. Erschütternd sind die Ausführungen de Waals über den Einmarsch der deutschen Truppen in Wien und seiner Beschreibung der perfiden, kriminellen Enteignungsmaschinerie.


Der Weg der Netsuke endet jedoch nicht in den weiten Taschen der Nazis. Sie finden im Dezember 1945 ihren Weg zurück nach Japan, und gehen schließlich als Erbe an den Autor. Der letzte Rastplatz der Sammlung ist London.


Stil & Sprache:


Flüssige Sprache, die die Tragik der Juden treffend darstellt, ohne anklagend zu wirken. Gute Beschreibungen mit interessanter Wortwahl.


Plot & Dramaturgie:


Mit der Verfolgung der Netsuke bis in die heutige Zeit ist dem Autor ein kluger, dramaturgischer Schachzug gelungen, der die einzelnen Generationen der Familie Ephrussi geschickt verbindet. Etwas zu kurz kommt die Beschreibung der persönlichen Beweggründe der einzelne Personen. Über ihr Seelenleben erfährt der Leser nur wenig.


Gesamtbewertung:


Wir haben das Buch überwiegend gern gelesen und – schwanken in der Bewertung (bei 1 bis 5 Sternen) zwischen 3 und 3,5 Sternen.      

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Buchkritik Aravind Adiga: "Letzter Mann im Turm“

Anrührend, anschaulich, dramatisch

C.H. Beck, 2011, 513 Seiten


Die Geschichte:


Wie weit geht der Mensch, geht eine Gemeinschaft, um an Geld zu kommen? Friedrich Dürrenmatt gab 1956 in seinem Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“ eine klare Antwort. Die Dorfgemeinschaft bringt den früheren Schänder der zu Geld gekommenen Klara um.


Der indische Autor Aravind Adiga erzählt, basierend auf einer realen Begebenheit aus Mumbai, die indische Variante: Ein Immobilienhai will ein altes Haus abreißen. Er bietet den Bewohnern viel Geld, damit sie ausziehen. Alle willigen ein, nur einer nicht: ein alter Lehrer, der damit die Wut der anderen auf sich zieht.


Stück um Stück zerbrechen die alten Freundschaften der Bewohner des Wohnblocks, wird der an seinen Erinnerungen hängende Lehrer isoliert und lächerlich gemacht. Der bis dahin seit Jahrzehnten funktionierende Mikrokosmos aus ganz unterschiedlichen Bewohnern mit all ihren Schwächen und Macken zerfällt. Endlich scheint es eine Chance zu geben, die eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu verwirklichen. Schließlich kämpft jeder Bewohner um das Geld für sich und seine Angehörigen – und gegen den Lehrer.


Bewertung:


Der Leser folgt dieser sehr bildhaften Beschreibung einer indischen Hausgemeinschaft mit dem bezeichnenden Namen Confidence (Vertrauen) und den Winkelzügen des Immobilienhais und seiner Handlanger mit einer Mischung aus Vergnügen, Bangen und wechselnden Sympathien. Denn Adiga vermeidet jedes Gut-Böse-Schema. Jeder der Handelnden in dieser Geschichte hat nachvollziehbare Gründe für das, was er will und tut - oder lässt. Bis hin zum verstörenden Ende.


Mitunter verwirren allerdings die vielen ähnlich klingenden Namen. Auch werden die Marotten der Bewohner an manchen Stellen zu sehr ausgebreitet. 100 Seiten weniger hätten dem Buch gut getan. In jedem Fall fehlt der Sog, die Rasanz und auch die stückweise Bösartigkeit des ersten Buches von Aravind Adiga, dem „Weißen Tiger“.


Wir geben daher – bei 1 bis 5 (Bestnote) möglichen - 2,9 Punkte.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Mario Vargas Llosa: "Der Traum des Kelten“

Historisch interessant, literarisch enttäuschend

Suhrkamp Verlag, 2011, 447 Seiten


Der Inhalt des Romans:


In „Der Traum des Kelten“ beschreibt Mario Vargas Llosa das Leben des Roger Casement (1864-1916). Casement ist Sohn eines protestantischen irischen Soldaten und einer früh verstorbenen Katholikin. Im Auftrag der britischen Regierung untersucht er Gräueltaten der Kolonialherren gegen die Bevölkerung im Kongo und im peruanischen Amazonasgebiet. Mit seinen Berichten sorgt er für großes Aufsehen in Europa. In seinem späteren Leben tritt er für die Unabhängigkeit Irlands vom Vereinigten Königreich ein. Während des 1. Weltkriegs verhandelt er mit Deutschland, um Unterstützung für den Befreiungskampf der Iren zu erhalten; dies wird jedoch von den britischen Behörden entdeckt. Casement wird wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.


Bewertung:


Wir haben das Buch mehrheitlich mit Interesse gelesen. Das Leben Casements bietet genug für eine Biographie oder einen Roman. Dass Vargas Llosa jedoch diese beiden Genres in „Der Traum des Kelten“ zu vermischen scheint, ist nach unserer Ansicht nicht geglückt. Die Konstruktion des Rückblicks, den der bereits inhaftierte Casement auf sein Leben wirft, scheint uns denkbar schlicht. Daneben blieb uns die Hauptfigur trotz der Tatsache, dass es sich um Rückblicke auf sein Leben handelt, fremd. Unklar bleiben die Motive, warum sich Casement – im Gegenteil zu der überwiegenden Mehrheit seiner Zeitgenossen – für die Gräueltaten in den Kolonien interessiert und Mitgefühl für die ausgebeutete und gequälte Bevölkerung empfindet.


Auch sein übermäßiges Engagement für den irischen Befreiungskampf wird nicht nachvollziehbar motiviert. Die Nebenfiguren bleiben selbst und in ihrem Verhältnis zu Casement blass, einige werden zwar in die Handlung eingeführt, ihr weiteres Schicksal jedoch nicht weiter erwähnt.


An anderer Stelle enthält das Buch dagegen eine unnötige Faktendichte wie z.B. Nennung unzähliger Namen deutscher Ministerialbürokraten, mit denen Casement verhandelt, ohne dass diese für den weiteren Verlauf der Handlung in irgendeiner Weise von Bedeutung sind.


Auch erscheinen die Schrecken der Gräueltaten insbesondere im Amazonasgebiet durch besondere Detailgenauigkeit und Wiederholungen fast ausgewalzt.
Stilistisch fallen insbesondere viele Wiederholungen und sperrige Formulierungen wie z.B. "die boshaften Äuglein in dem schwammigen Gesicht mit dem blonden Schnurrbart" auf. Nicht einigen konnten wir uns über die Frage, ob die teilweise abwertenden und rassistischen Formulierungen dem Zeitgeist Casements geschuldet sind oder nicht.


Gesamteindruck


Sehr interessantes Thema, die Umsetzung scheint uns insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei dem Autor um einen Träger des Literaturnobelpreises handelt, jedoch nicht sehr geglückt.

Wir vergeben 2,6 von 5 möglichen Punkten.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Javier Cercas: "Anatomie eines Augenblicks“

Historisch interessant, langatmig, spannungslos
S.Fischer, 2011, 541 Seiten


Die Geschichte:

Am 23.Februar 1981 beginnt eine Gruppe rechtsgerichteter spanischer Militärs einen Putsch, indem sie die Mitglieder des Parlaments in Beugehaft nimmt. Während die Mehrheit der Abgeordneten unter ihren Bänken Schutz sucht, bleibt der scheidende Präsident Adolfo Suarez ruhig sitzen. Der Autor beschreibt die Rolle des Königs, des Militärs und des charismatischen Präsidenten Adolfo Suarez. Jedes seiner Buchteile beginnt mit einer Kameraeinstellung, wie bei einem Drehbuch und filmt die Entwicklung des Putsches bis zum Scheitern des Obersten Tejero.


Stil & Sprache:

Der Autor versucht ,wie ein Arzt, akribisch die Beweggründe jeder einzelnen Figur zu sezieren. Er schreibt ruhig und flüssig und beleuchtet die Figuren und Beweggründe, wie eine Kamera von außen,aus den verschiedensten Blickwinkeln. Spannung entsteht nur bei der Beschreibung der Schlüsselfigur, des Obersten Tejero, der nicht aufgeben will.


Einige vom Author gewählte Metaphern („die Plazenta des Putsches“) wirken insbesondere durch unzählige Wiederholungen aufgesetzt und affektiert. Auch das dem Roman vorangestellte Nachwort wirkt durch seine Rechtfertigung und Nabelschau eher ermüdend.


Plot & Dramaturgie:

Die zugrunde liegenden Ereignisse sind gut recherchiert und lassen den Leser an einem historischen Moment der jüngeren Geschichte Spaniens teilhaben. Gut gewählt erschien uns auch die Idee, sich den Geschehnissen jeweils von den unterschiedlichen Protagonisten des Putsches zu nähern, wobei von uns allen die Sicht des Spanischen Königs vermisst wurde.


Gesamtbewertung:

Wir haben uns mehrheitlich schwer getan. Das Buch ist zu langatmig und der Autor verliert sich in vielfältigen Wiederholungen. Unserer Ansicht nach hat der Autor eine Chance vertan, indem er einen wichtigen Moment der europäischen Geschichte, dessen Verlauf in Deutschland größtenteils nur oberflächlich bekannt sein dürfte, durch ausufernde und teilweise gekünstelte Darstellung auf über 560 Seiten aufbläst.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Thomas Wolfe: "Die Party bei den Jacks“

Manesse Verlag 2011, 352 Seiten.


Die Handlung des Buches ist überschaubar: Der Autor erzählt von einer Party der New Yorker Upperclass Ende der  20er Jahre. Die Vorbereitungen und das Event selbst werden aus den Perspektiven der Beteiligten geschildert – vom Dienstmädchen über den aus Deutschland stammenden Mr. Jack bis hin zur Gastgeberin, der amerikanischen Bühnenbildnerin Esther Jack.


Mit den Augen eines Kindes


Thomas Wolfe versucht in seinem Buch, die Eigenschaften und Eigenarten der „vortrefflichen Gesellschaft“ New Yorks und der sie umgebenden Menschen darzustellen. Wolfe geht dabei allerdings in großen Teilen völlig kritiklos zu Werke, insbesondere in Hinblick auf seine Hauptfigur Esther Jack. Wie ein Kind schaut dieser Autor mit großen Augen staunend und voller Bewunderung dem ganzen Treiben zu. Lediglich in den Passagen, die sich mit den Dienstboten beschäftigen, zeigt er nachvollziehbar Konflikte auf.


Unklar bleibt auch, warum der eigentlichen Handlung des Romans eine traumartige Beschreibung der Kindheit des im späteren Verlauf eher wenig präsenten Mr. Jack vorangestellt wurde.  


Schwülstige Sprache


In übertriebener, schwülstiger und altmodischer Sprache zieht sich der handlungsarme Text dahin. „Keim des Lebens, Zauber der Mutter Erde, tiefer Frieden in seiner Seele“ – jeder Satz wird durch schlichte, trivale und abgegriffene Adjektive und Bilder banalisiert.


Einfaches Mahl, kluger Architekt, die starken mächtigen Nasenflügel leicht bebend, fühlte sich wie ein junger Hengst – um hier nur Beispiele einer einzigen von insgesamt 352 Seiten aufzuführen, in denen es zudem von Wiederholungen wimmelt.


Über die Frage, ob dies der fehlenden Überarbeitung durch den Autor – oder seinem fehlenden Talent? - geschuldet ist oder vom ihm bewusst zur Verdeutlichung der Oberflächlichkeit der dargestellten Personen eingesetzt wurde, konnten wir uns nicht einigen.


Unvollendet oder unfähig?


Insgesamt hat man den Eindruck, der Roman sei noch nicht fertig. Tatsächlich stammt das Werk aus dem Nachlass von Thomas Wolfe, wurde dort von Literaturagenten "entdeckt" und als Buch über den Vorabend der Weltwirtschaftskrise, die hier als ungeklärter Zusammenbruch im New Yorker Untergrund dargestellt wird, vermarktet.
Das Nachwort geht auch darauf ein, dass Thomas Wolfe durchaus mit Tom Wolfe verwechselt werden kann.


Die Kritik ist jedenfalls mit diesem Buch sehr wohlwollend umgegangen, hält es zwar für überbordend, aber auch aufschlussreich und literarisch interessant. Die Meinung teilen wir nicht: Wir geben 2,3 von 5 möglichen Punkten (sehr gut) und raten von der Lektüre ab.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Zsuzsa Bánk: "Die hellen Tage“

S. Fischer, 541 Seiten, 2011

Über „Die hellen Tage“ der Kindheit und die dahinter liegenden dunklen Geheimnisse von Aja, Seri und Karl erzählt Zsuzsa Bánk in ihrem zweiten Roman, der sich auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises findet.


Die Geschichte des Romans
Die Ich-Erzählerin Seri lernt als Kind Aja kennen, die in einer Baracke lebt und deren Vater, der Artist Zigi, sie und seine Frau Évi nur wenige Monate im Jahr besucht und die restliche Zeit mit dem Zirkus unterwegs ist. Seri und Aja werden beste Freundinnen, wenig später stößt noch Karl dazu und sie verleben gemeinsam diese hellen Tage ihrer Kindheit, obwohl auch Karl und Seri nicht in einer heilen Familienwelt leben: Karls Bruder ist verschwunden und niemand weiß genau, was ihm passiert ist; Seris Vater ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.


Die erste Hälfte des Buches kreist um Ajas Mutter Évi, die den drei Kindern viele unbeschwerte Erlebnisse ermöglicht und sie mitsamt ihren Eltern quasi miterzieht. Evi ist das Umherreisen der Roma leid und erarbeitet sich ein sesshaftes Leben in der süddeutschen Provinz. Mit ihrem großen Herz holt sie Karls Eltern ins Leben zurück und bittet auch selbst um Hilfe, wenn sie diese braucht.


Bei ihrem Studium in Heidelberg und Rom erfahren die drei die Grenzen ihrer Freundschaft und werden mit den bislang verdrängten dunklen Tagen ihrer Familien konfrontiert.


Themen des Buches
*Was macht das Glück der Kindheit aus?
*Wie kann eine Freundschaft Kindheit und Jugend überdauern?
*Kann eine Freundschaft zu dritt gutgehen?
*Wie geht man Geheimnissen und dunklen Punkten in der eigenen Vergangenheit oder der Familie um?


Bewertung des Buches
Wir haben uns mit diesem Buch mehrheitlich schwer getan. Die Schilderung der Kindheit der Protagonisten wurde von vielen als Kitsch betrachtet. Zudem fehlte über weite Strecken jede Handlung.


Der Stil des Buches wurde sehr unterschiedlich beurteilt. Während einige die langen Sätze und die bildreiche Sprache als gelungen lobten, haben andere dies und die ständigen Wiederholungen der gleichen Bilder als anstrengend und ermüdend empfunden.

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Abb. © Verlag
Buchkritik Michel Houellebecq: "Karte und Gebiet“

DuMont Verlag 2011, 416 Seiten


Wer ein neues Gebiet erkundet, ist gut beraten, sich vorher eine Karte zu besorgen. In seinem jüngsten Roman zeichnet Michel Houellebecq die persönlichen und ökonomischen Beziehungen seiner Figuren wie ein Kartograf nach, markiert Personen, Orte und Marken wie Sehenswürdigkeiten und macht sich Gedanken über Schicksal und Wille. Ist das Leben eine Straßenkarte?


Die Geschichte des Romans
Jed Martin macht Kunst mit Michelin-Straßenkarten, wird auf dem Markt platziert, hat Erfolg und gibt alles auf, um sich einem neuen Kunstprojekt zuzuwenden. Dieses Spiel wiederholt sich noch zweimal. Er verliebt sich, steht aber nicht dazu. Er verehrt und besucht den Schriftsteller Michel Houellebecq, der als menschenfeindlicher Eremit mit einer guten Portion Selbstmitleid auftritt. Jed dagegen ist selbstgenügsam, vertieft sich über Jahre in seine Projekte, und arbeitet an seinem Verhältnis zu seinem Vater.
Im zweiten Teil des Romans steht ein Verbrechen im Vordergrund. Es treten auf: ein Hauptkommissar mit Frau und passendem Kleinhund sowie sein fähiger Assistent und designierter Nachfolger. Die Polizisten müssen den Tatort, der nicht von ungefähr das Aussehen einer Satellitenbild-Aufnahme hat, "kartografieren", also Punkte und Verbindungen herstellen. Das gelingt ihnen lange nicht, obwohl sie sich im Gebiet des Mordens und der möglichen Motive gut auskennen. Der Künstler Jed Martin ist der letzte, der das Opfer besucht hat ...


Themen des Romans sind
Houellebecq skizziert mehrere bürgerliche Milieus des heutigen Frankreichs nebst allen Attributen, die dazu gehören - Marken, Verhaltensregeln, Personen, die man benutzen, einhalten und kennen muss, um dazu zu gehören. Das Leben, die Menschen und ihre Beziehungen als Straßenkarte:
- wie wird aus dem Gesprenkel einer Google-Earth-Satellitenaufnahme ein geordnetes Kartenbild?
- was definiert einen als Eintrag auf der Karte?
- wie verlaufen soziale und ökonomische Beziehungen?
- kann man seine Position auf der Karte verändern (was ist Schicksal, was bewegt Wille)?
- und lohnt sich das?
- Schließlich: können sich Gebiete und ihre Karten insgesamt verändern?


Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder
Ein gut lesbarer, hochaktueller, aber auch etwas zahmer Roman, der zum Nachdenken anregt, wenn man den Titel wörtlich nimmt. 3 von 5 Punkten.

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Buchkritik Jonathan Lethem: "Chronic City“

Tropen, 491 Seiten, 2011 (Original: 2009)


Chronic City ist der neue Roman des 1964 in New York geborenen Jonathan Lethem, der bisher sieben Romane veröffentlicht hat. Jonathan Lethem hat am renommierten Pomona College als Nachfolger von David Foster Wallace die Professur für Creative Writing übernommen.


Die Geschichte des Romans
Der alternde Ex-Kinderstar Chase Insteadman lässt sich als Mitglied der New Yorker Upper Class ohne Ambitionen von einem Event zum nächsten Treiben und unterhält dort durch seine Geschichten über seine Verlobte Janice Trumbull, die als Astronautin im All verschollen ist und ihm herzzerrreißende Briefe schreibt.


Als Chase Perkus Tooth, den Sonderling und ehemaligen Journalisten des Rolling Stone kennenlernt, offenbart sich ihm eine neue Welt, in der wilde Theorien über Filme, Literatur, das Leben und alles weitere gesponnen und miteinander verwoben werden. Zusammen lassen sie sich durch ein surreales ew York treiben, dass vom grauen Nebel an der Wall Street, einem vermeintlich riesigen und zerstörerischen Tiger, dauerhaftem Schneefall und allerlei exzentrischen Figuren bevölkert wird.


Themen des Romans sind
Die große Frage nach dem „richtigen Leben im falschen“
Freundschaft
Kunst, Kino, Literatur und Musik
Die Entwicklung der Mega Cities


Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder
Ein polarisierender Roman: Während eine Hälfte der Teilnehmer begeistert war, hat die andere Hälfte mit dem Roman gar nichts anfangen können.

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Buchkritik Siri Hustvedt: "Der Sommer ohne Männer“

Rowohlt Verlag, 252 Seiten, 2011



Inhalt:

In „Der Sommer ohne Männer“ geht es um die New Yorker Dichterin Mia, deren Mann ihr eines Tages eröffnet, dass er eine Pause von der Ehe haben möchte. Tatsächlich hat er eine Affäre mit einer jüngeren Arbeitskollegin. Die verletzte Mia erleidet eine Psychose und wird in eine Klinik eingeliefert. Als es Mia nach einiger Zeit wieder etwas besser geht, verlässt sie die Stadt, um den Sommer in der Nähe ihrer Mutter zu verbringen.


Zusätzlich will sie in ihrem Provinzheimatort einen Poesie Workshop geben. In diesem Kurs spielen sich dann vor ihren Augen ähnliche Szenen ab, wie Mia sie vor vielen Jahren selbst erlebt hat – eines der Mädchen, das „irgendwie anders ist“ wird von den übrigen gedemütigt.


Themen des Romans:

Das, was sich in der Kurzzusammenfassung liest wie eine außerordentlich erfolgreiche Psychoanalyse, ist so dezent beschrieben, dass es an keiner Stelle aufgesetzt wirkt und man es sogar überlesen könnte. Ein großer Verdienst dieses Romans!


Umso mehr war es verwunderlich, dass Siri Hustvedt und Dennis Scheck bei der Lesung der Autorin in Hamburg gar nicht darauf eingingen, sondern sich über Neurowissenschaften, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und die Reflexionen über Zeit im Roman unterhielten.


Themen, die uns als nicht so vorrangig erschienen. Außerdem wurden bei dieser Veranstaltung fast ausschließlich die expliziten Szenen vorgelesen, in denen Mia über Sexualität nachdenkt, und die wir alle uninteressant bis befremdlich fanden. Auch die Illustrationen hätte das Buch nicht gebraucht.


Bewertung der Shortlist-Mitglieder:

Trotz der angesprochenen Schwäche: Der sehr gut lesbare Roman kam bei unserer Wertung gut weg und schaffte 3,7 Punkte - bei einer möglichen Bewertung von 0 (schlecht) bis 5 Punkte (das perfekte Buch).

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Buchkritik Doron Rabinovici: "Andernorts“

Suhrkamp Verlag, 286 Seiten, 2010



Mit „Andernorts“ schaffte es der 1961 in Israel geborene, in Wien lebende Autor auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010.


Inhalt
Ethan Rosen ist Kulturwissenschaftler in Wien. Als er auf den Nachruf für einen Freund, einen Überlebenden der Shoa, eine wütende Antwort veröffentlicht, wird er vom Verfasser des Nachrufs, Rudi Klausinger, mit seinen eigenen Worten geschlagen und es entspinnt sich ein „Feuilletonkrieg“ zwischen beiden. Nachdem dieser Rudi Klausinger sich auf die für Ethan geschaffene Stelle an seinem Institut bewirbt, verlässt Ethan Österreich und reist nach Israel, um seinem schwerkranken Vater beizustehen. Dort muss er feststellen, dass Klausinger ebenfalls nach Tel Aviv gekommen ist und behauptet, dass Ethans Vater Felix auch sein Vater sei.


Themen des Buches sind
  • der Wettstreit zweier Männer um eine Professur, die Deutungshoheit über die Motive eines verstorbenen Freundes, den Vater und eine Frau
  • die Idee eines ultra-orthodoxen Rabbis, den Messias mit Hilfe der Gentechnik zu „rekonstruieren“, da er mit Hilfe kabbalistischer Studien ermittelt haben will, dass der Messias noch im Mutterleib im Holocaust ermordet wurde und so nie zur Welt kam
  • die Relativität der Wahrheit, abhängig davon, wo sie ausgesprochen wird
  • Die Frage „Was bedeutet es denn, sich als Israeli zu fühlen?“

Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder
  • Fast alle Mitglieder waren vom Einfallsreichtum und der Geschichte begeistert und vergaben für den Plot durchschnittlich mehr als vier (von fünf möglichen) Punkten. Insbesondere die Eingangsszene im Flugzeug wurde gelobt.
  • Die Sprache des Buches konnte nicht im gleichen Maße überzeugen, teilweise wurden Holprigkeiten bemängelt: durchschnittlich knapp drei Punkte.

Insgesamt haben wir - mit einer Ausnahme - den Roman gern gelesen und vergeben durchschnittlich 3,9 Punkte.

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Buchkritik Ian McEwan: "Solar“

Diogenes, 405 Seiten, 2010

Mit „Solar“ wirbelte der britische Erfolgsautor die deutschen Feuilletons auf, wurde als „erster großer Roman, der den Klimawandel thematisiert“ angekündigt und als „Wissenschaftssatire“ mit "scharfkonturierten Plots" gepriesen, in dem es jedoch nur am Rande um Solarenergie geht.


Inhalt


Michael Beard ist Physiker und Frauenheld. Er hat den Nobelpreis erhalten, doch das ist lange her und seine Prioritäten im Leben haben sich längst verändert: Im Beruf ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus, privat ist er stets auf der Jagd nach Annerkennung in der Frauenwelt. Bis die geniale Idee eines jungen Wissenschaftlers sowie dessen Tod für Wirbel in seinem Leben sorgt. In Solar geht es nicht nur um Sonnen-, sondern auch um kriminelle Energie und menschliche Schwächen.


Themen des Buches sind


  • der Blick auf einen Wisschenschaftsbetrieb, der sich offiziell dazu verschrieben hat, dem Klimawandel entgegenzutreten, sich anstatt dessen jedoch in bestehenden Projekten verfängt
  • vor allem aber um einen genusssüchtigen, nobelpreisgekrönten Physiker, dessen Ruhm in der Wisschenschafts- wie in der Frauenwelt zunehmend verblasst, und der sich skrupellos der Forschungsergebnisse eines Assistenten bemächtigt, von denen er sich neue Anerkennung erhofft
  • die Doppelmoral eines Mannes, der sich mehr um sein eigens Wohl als um das seiner direkten Mitmenschen oder gar der Menschheit kümmert und sich in schöner Parallele zum Weltklima auf die Katastrophe zu bewegt

Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder


  • Fast alle Mitglieder waren von der Satire begeistert und vergaben für den Plot durchschnittlich zwischen drei und 3,5 (von fünf möglichen) Punkten. Insbesondere die flotte Erzählweise und komischen, durch menschliche Schwächen geprägten Episoden im Leben des Protagonisten wurde gelobt.
  • Dennoch konnte das Buch nicht im gleichen Maße überzeugen, wie frühere Werke des Autors mit komplexeren Plots und vielschichtigeren Charakteren– z.B. „Abbitte“ oder „Saturday“.

Insgesamt haben wir - mit einer Ausnahme - den Roman gern gelesen und vergeben durchschnittlich 3,4 Punkte – bei einer möglichen Bewertung von 0 (schlecht) bis 5 Punkte (das perfekte Buch).

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Buchkritik Marie N´Diaye: "Drei starke Frauen“

Politisch, erschreckend, betrüblich
Suhrkamp, 2010, 300 Seiten


Die Autorin


Für „Drei starke Frauen“ wurde die aus dem Senegal stammende Französin Marie N´Diaye mit dem französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet. Marie N´Diaye, 43, verließ Frankreich aus Protest gegen die Einwanderungspolitik von Sarkozy und lebt heute mit Mann und Kindern in Berlin.


Der Inhalt des Buches


In drei lose miteinander verwobenen Geschichten erzählt Marie N´Diaye die Lebensgeschichte von 3 afrikanischen Frauen.
- Norah, die sich erfolgreich als Juristin in Paris etabliert hat, besucht den gehassten Vater in Dakar, Senegal. Er hat sie gerufen, um den Bruder aus dem Gefängnis zu holen.
- Fanta, die Lehrerin, hat Dar es Salam verlassen, um ihrem Mann nach Frankreich zu folgen. Dessen Träume vom beruflichen Erfolg zerplatzen in der Provinz – und mit ihm der Lebenstraum von Fanta.
- Khady wird von den Eltern ihres verstorbenen Ehemanns verstoßen und soll illegal nach Frankreich einwandern. Diese Flucht überlebt Khady nicht.


Exil, Verrat und Gewalt in der Familie


Um diese drei Themen kreisen die Geschichten des Buches. Frankreich, die frühere Kolonialmacht – sie ist für Khady das unerreichbare Ziel, für Fanta und ihren Mann der Ort ihres Scheiterns und für Juristin Norah ein Ort, an dem sie sich nur mit äußerster Disziplin durchsetzen kann. Und alle drei werden von Männern aus Schwäche und Feigheit verraten. Da gibt es den Vater, der Frau und Töchter im Stich lässt. Den Mann, der seine Frau belügt, um sie nach Frankreich zu locken. Und den Begleiter der Flüchtigen, der sie opfert, um selbst zu entkommen. In jeder der Geschichten ist der Leser zudem mit Gewalt bis hin zum sinnlosen Mord konfrontiert.


Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder:
  • Die reportageartig erzählte Fluchtgeschichte von Khady ist sicher die der drei Geschichten, die am meisten unter die Haut geht, die berührt und in ihrer Direktheit erschreckt.
  • Sprachlich gefiel uns dagegen die zweite Geschichte besonders gut. Über die Afrikanerin Fanta erfahren wir hier nur über ihren Mann, die Hauptfigur der Geschichte, der als Küchenverkäufer sein Leben in der Provinz fristet und von der Liebe zu Fanta zehrt.
  • Ermüdend und zu dick aufgetragen waren mitunter die magischen Motive, die zum Verständnis der Geschichte und der Situation wenig beitragen.
  • Und: Stark ist keine der drei Frauen. Duldsam, leidensfähig sicherlich. Aber nicht stark. Insofern passt eigentlich weder der Deutsche noch der Französische Titel zu den drei Geschichten (Trois femmes puissantes).

Gesamteindruck


Gut. Drei starke Frauen ist vor allem auch ein politisch interessantes Buch, dessen drei sprachlich ganz eigenständige Geschichten drei ganz unterschiedliche, aktuelle Schlaglichter auf das Leben afrikanischer Frauen im 21. Jahrhundert werfen. Wir geben deshalb 3,4 Punkte – bei einer möglichen Bewertung von 0 (schlecht) bis 5 Sterne (das perfekte Buch).

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Buchkritik Hans-Ulrich Treichel: "Grunewaldsee“

Suhrkamp Verlag, 237 Seiten, 2010


Grunewaldsee ist der neue Roman des 1952 in Versmold/Westfalen geborenen und in Berlin und Leipzig lebenden Germanistik-Professors Hans-Ulrich Treichel.


Die Geschichte des Romans:


Der aus der niedersächsischen Provinz stammende Paul wartet in West-Berlin nach Abschluss des Studiums auf einen Referendariatsplatz. Um die lange, mehrjährige Wartezeit zu überbrücken, nimmt er einen Job als Sprachlehrer in Spanien an, verliebt sich dort in die unglücklich verheiratete, schwangere Maria und verliebt mit ihr einen idyllischen Sommer, der all seine bisherigen Erlebnisse mit Frauen in den Schatten stellt, so dass er nach seiner Rückkehr nach Berlin nicht nur auf den Referendariatsplatz wartet, sondern auch auf das Wiedersehen mit seiner spanischen Geliebten.


Themen des Romans sind


  • die Suche des Helden nach einem Paradies, das er inmitten der Großstadt am titelgebenden Grunewaldsee zu finden hofft, das er im spanischen Sommer mit seiner Geliebten erlebt, aber aus dem er auch immer wieder vertrieben wird.
  • seine Eltern, insbesondere seine unter „Idyllenkrankheit“ leidende Mutter, sind Thema und bilden zusammen mit vielen anderen Familien einen großen Themenkomplex des Romans.
  • Die Passivität des dauerhaft wartenden Protagonisten, der nur für Handlungsverweigerungen belohnt wird, während ihn nach jeder Initiative und Handlung negative Konsequenzen erwarten.

Die Bewertung der Shortlist-Mitglieder:


  • Auf der Inhaltsebene gelesen fiel die Hauptfigur Paul bei den weiblichen Shortlist-Teilnehmern (Männer waren leider nicht anwesend) durch seine Trägheit als sehr unsympathisch auf, was es schwer machte, sich erstens mit ihm zu identifizieren und zweitens die Frauenfiguren des Romans, insbesondere Maria, nachzuvollziehen.
  • Die Sprache des Romans wurde als angenehm unprätentiös empfunden.
  • Einzelne Mitglieder lobten das Motivgeflecht des Romans und die Skizzen einiger Nebenfiguren (z.B. der Mutter und der türkischen Nachbarsfamilie von Paul).
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Buchkritik Richard Price: "Cash“

S. Fischer, 2010, 528 Seiten

Unsere Meinung: Drehbuchartig, realistisch, polarisierend


Die Story:


Die Lower East Side von New York. Polizisten, Diebe und Kneipenvögel steifen durch die Gegend. Die Perspektive wechselt zwischen ihnen. Dann werden drei junge, jeweils künstlerisch ambitionierte Männer von zwei Ghetto-Kids überfallen. Es kommt zu einem Wortwechsel und zu einem Schuss. Aus dem geplanten Raub wird Mord, einer der drei, Ike Markus stirbt und die Kids entkommen. Doch die Aufklärung der Tat ist nicht so einfach.

Die unterschiedlichen von dem Verbrechen berührten Personen: Der einsame Täter Tristan, der frustrierte, sich verweigernde Hauptzeuge Eric Cash, die an vielen Fronten kämpfenden Ermittler Matty Clark und seine Kollegin Yolanda, sowie der verzweifelte, übereifrige Vater des Toten Billy Markus, werden beschreiben und wie von einer Kamera begleitet, bis es begünstigt durch einen Zufall zur Lösung des Falles kommt.


Stil & Sprache:


Die viel gelobten Dialoge und die realistischen, stilistisch „schlanken“ Beschreibungen erinnern stark an ein Drehbuch. Wobei nur zu ahnen ist wie viel von seinem sprachlichen Reiz der Text durch die Übersetzung verliert.


Plot & Dramaturgie:


Der Anfang des Romans liest sich ein wenig sperrig. Erst ab Seite 100, nachdem man die Figuren kennen gelernt hat, setzt die Spannung ein und hält dann aber bis zum Ende an.


Gesamtbewertung:


Dieses Buch polarisiert. Es gibt echte Fans, die Mehrheit unserer Gruppe ist jedoch wenig begeistert. Bewertungen: von 0 (schlecht) bis 5 Sterne (das perfekte Buch).

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Buchkritik Colum McCann: "Die große Welt“

Unsere Meinung zu „Die große Welt“ von Colum Mc Cann: Literarisch, gut lesbar, stimmig.

Rowohlt, 2009, 537 Seiten


  • Die Story: An einem Tag des Jahrs 1974 laufen die Geschichten der zentralen Figuren des Romans zusammen. Es ist der Tag, an dem der Drahtseilartist Philippe Petit den Abgrund zwischen den Türmen des World Trade Center auf dem Seil überquert. Rund um diese reale Begebenheit knüpft der irische Schriftsteller Column Mc Cann die fiktiven Lebensgeschichten seiner zehn Figuren – quer durch alle Gesellschaftsschichten und die amerikanische Geschichte vom Vietnamkrieg bis zum 11. September. 10 Leben, jedes auf seine Weise absturzgefährdet. Etwa in Corrigan, dem aufopferungsvollen Iren, der sein Leben den Straßenhuren in der Bronx widmet. Die Story der schwarzen College-Absolventin Gloria, deren Söhne im Vietnamkrieg umgekommen sind. Oder der Prostituierten Tillie, die schon mit 38 Großmutter ist, und ihrer schönen Tochter Jazzlyn.

  • Stil & Sprache: In Büchern wie „Der Tänzer“ oder „Zoli“ schreibt Column Mc Cann emotional, leidenschaftlich. „Die große Welt“ dagegen ist gefällig, harmonisch, in ruhigem Stil geschrieben und damit angenehm zu lesen, aber eben auch weniger mitreißend als die früheren Bücher.

  • Plot & Dramaturgie: Rund um das Thema Absturz ist es Mc Cann geschickt gelungen, die historischen Details und das mosaikhafte Verweben der Lebensstränge dem Leser glaubhaft nahezubringen. So baut sich auch die Spannung im Verlauf der Geschichte(n) immer weiter auf.

  • Gesamtbewertung: Wir haben das Buch unisono gern gelesen und – schwanken in der Bewertung (bei 1 bis 5 Sternen) zwischen 3 und 4 Sternen.
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Buchkritik Kathrin Schmidt: "Du stirbst nicht“

Fest steht:


Sprachlich ist dieses Buch grandios. Knapp, mitleidlos, in kurzen Sätzen, Satzfetzen, beschreibt Kathrin Schmidt die Selbstwahrnehmung ihrer Protagonistin Helene.


Helene, die nach einem Gehirnschlag erwacht, ihre eigene physische und geistigen Beschränkung und die andauernde Entmündigung durch das Pflegepersonal wahrnimmt, analysiert und ironisiert - und doch kaum Chancen hat, sich der Umwelt mitzuteilen. Und sich dann Stück für Stück ihre Identität zurückerobert, sich immer mehr und öfter erinnert an ihr früheres Leben, ihre Lieben, ihre Kinder, ihren Mann und was sie für ihn empfand.   


Einig sind wir uns:


Mindestens ein Drittel hätte man kürzen können, und das Buch hätte gewonnnen. Irgendwann ermüdet das Schlabbern, die Mitteilungen über den hilflosen verschlauchten Körper und das Krankenhaus.   


Würden wir noch mal ein Buch von Kathrin Schmidt lesen?


Nein sagen die, die die ungeschminkte, übergewichtige Helene und die ganze Ostalgie nicht ausstehen konnten – und ähnliches bei anderen Büchern befürchten. Unbedingt, sagen die, die diese Frau unglaublich spannend, lebensbejahend finden und gerne mehr über solche Lebenskünstlerinnen lesen würden.

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Buchkritik Leon de Winter: "Das Recht auf Rückkehr“

Israel im Jahr 2024. In einem aussterbenden Land, das auf die Größe von Tel Aviv geschrumpft ist und in dem nur noch die Alten und Kranken zurückgeblieben sind, lebt Bram, Kind eines Nobelpreisträgers und früherer Nahost-Friedenforscher. Er unterstützt Eltern dabei, ihre verlorenen Kindern wieder zu finden. Bram selbst und sein erfolgreiches Familien- und Karriereleben sind zerbrochen, als 20 Jahre zuvor sein Sohn verschwand.



Die Frage nach dem richtigen politischen Weg


„Recht auf Rückkehr" plädiert für Härte, kritisiert die jüdische Milde gegenüber dem Feind. Bram, sein Sohn, der befreundete Politiker, der Staat Israel – sie alle haben 2024 die Schlacht gegen den Islamismus verloren. Das jüngste ist damit auch das bislang politischste Buch des jüdischen Autors, dessen extreme These beunruhigt, nachdenklich macht und die eigene bisherige Position hinterfragt.


Die Bewertung


Leon de Winter polarisiert: Die Meinungen für „Recht auf Rückkehr“ reichen von „konnte ich nicht fertig lesen“ bis zu „habe ich begeistert zweimal verschlungen“. Die einen geben 2 Punkte (1 = schlecht), die anderen 4 plus (5 = sehr gut). Schwierig bis abschreckend, so die Kritik, die vielen Vor- und Rückblenden. Auch die Bilderbuchehe des jungen Brams mit der schönen isrealischen Ärztin am Anfang des Buches wurde als holzschnittartig empfunden.


Unisono begeistert dagegen die Sprache dieser Nahost- und Familiengeschichte. Insbesondere die düsteren Zukunftspassagen in einem zum totalen Überwachungsstaat aufgerüsteten Israel sind beklemmend gut geschildert und kreisen um die eigentliche große Frage dieses Buches: Wie kann sich Israel inmitten der umgebenden feindlichen arabischen Staaten eine Zukunft sichern?

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