Mitreißender, unkonventionell erzählter Historienroman
Zsolnay 2017, 592 Seiten
Zu grausam? Zu roh?
Ein Roman, an dem sich schon vor der Lektüre die Geister schieden! Jedenfalls blieben einige der Mitglieder dem monatlichen Treffen fern und ließen über andere weitergeben, dass sie Franzobels „Floß der Medusa“ aufgrund der Thematik bewusst nicht gelesen hätten. Diejenigen, die den Roman gelesen haben, zeigten sich in ihrem Urteil höchst unterschiedlich, nur kalt ließ dieser Roman niemanden!
Handlung
Doch zunächst zum Plot, der bereits vielen Lesern bekannt sein dürfte u. a. aufgrund der Berühmtheit des im Louvre hängenden Gemäldes Théodore Géricaults „Le radeau de La Méduse“, das auch im Ausschnitt auf dem Schutzumschlag des Buches zu sehen ist.
Der österreichische Autor Franzobel (es handelt sich hier um seinen vollständigen Namen – ein Pseudonym!) erzählt hier vom Schicksal der französischen Fregatte ‚La Méduse‘, die im Jahre 1816 auf ihrem geplanten Kurs von Frankreich in den Senegal vor der Küste Afrikas auf Sand läuft. Nicht unschuldig daran sind der selbstgefällige und unfähige Kapitän sowie sein hochstapelnder Berater, die beide schon schnell auf Konfrontationskurs mit ihren Offizieren gehen und deren Mahnungen und Ratschläge in den Wind schlagen. Ebenfalls an Bord ist der neue Generalgouverneur des Senegal, der auf große Eile drängt, die nach Ende der napoleonischen Kriege wieder an Frankreich gefallene Kolonie zu erreichen. Diese Mischung aus Stümperei und Eile führt zur Katastrophe: das Schiff steckt fest und für die 400 Passagiere gibt es lediglich sechs Beiboote, die gerade einmal Platz für 250 Personen bieten würden, hätte man sie denn ganz gefüllt. Einige bleiben an Bord des Wracks, 147 Personen finden Platz auf einem 20 Meter langen und sieben Meter breiten Floß, auf dem die Menschen zunächst bis zur Hüfte im Wasser stehen. Versucht man zunächst mit den Beibooten, das Floß mit sich an Land zu ziehen, kappt man recht schnell das Schlepptau, da das Floß die Boote zurück auf Meer treibt.
13 Tage treibt das Floß auf dem offenen Meer und schon in der ersten Nacht kommt es unter den eng beieinanderstehenden Schiffbrüchigen zu Kämpfen, werden Menschen von Bord gestoßen, werden aufgrund der hoffnungslos erscheinenden Versorgungslage gar Fleischstreifen aus den Toten geschnitten, werden die Schwachen von den Starken ausgesondert, um so das eigene Überleben zu sichern. Nur 15 Menschen überleben.
Franzobel erspart dem Leser nichts, das Unvorstellbare findet hier seine Versprachlichung, Etappe für Etappe des nahenden Unglücks werden in der ersten Hälfte des Romans in spannungsvoller chronologischer Abfolge erzählt.
Der zweite Teil ist dann ganz dem Kampf ums Überleben der Schiffbrüchigen gewidmet, wobei hier deutlich gedrängter erzählt wird als in der vorhergehenden Hälfte.
Dass dieser Stoff, der die Gefährdungen und Grenzen menschlicher Kultur in bedrohter Lage aufzeigt, nicht zu schwer daherkommt, liegt am frechen und unkonventionellen Ton des Erzählers, der trotz aller Tragik des Geschehens, eine zuweilen gar heitere Distanz schafft. So werden einzelnen Figuren Physiognomien von Hollywood-Schauspielern beigegeben und auch Intimstes wie beispielsweise die Diarrhoe des Kapitäns u. ä. wird hier nicht ausgespart.
Bewertung
Der Roman traf in unserem Kreis auf eine höchst gegensätzliche Resonanz, wobei zu konstatieren ist, dass er niemanden gleichgültig gelassen hat. Negative Reaktionen riefen vor allem das Sujet und dessen manchem zu detailliert erscheinende Beschreibung des Grausamen und Hässlichen hervor.
Lediglich sieben Mitglieder brachten in dieser Runde ihre Wertung ein, wobei es hier von zwei Lesern die absolute Höchstwertung von 5,0 gab, gefolgt von zweimal 4,6! Nur eine Leserin zeigte sich in allen Bereichen enttäuscht und vergab insgesamt eine 1,0. Zusammengerechnet kam die Gruppe auf eine 3,9. (mm)