Édouard Louis erzählt mit gewaltsamer Offenheit
Aufbau Verlag, 2022, 272 Seiten
Darum geht es
Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ knüpft Édouard Louis an seinen autofiktionalen Erfolgsroman „Das Ende von Eddy“ aus dem Jahr 2015 an. Aus „Eddy“ wird „Edouard“, und auch ansonsten unternimmt der Ich-Erzähler jeden Versuch, seine Herkunft aus prekärsten Verhältnissen hinter sich zu lassen.
Schicht für Schicht trägt er die Spuren ab, die wirtschaftliche Not, geistige Enge und gesellschaftliche Randständigkeit hinterlassen haben. Doch so sehr Edouard auch räumliche und intellektuelle Distanz zwischen sich und das verarmte nordfranzösische Dorf seiner Kindheit legt, entdeckt er doch immer neue Zeugnisse des Anders-Seins an und in sich.
Ohne Rast und von beinahe manischem Eifer angetrieben nimmt Edouard seinen Weg über die örtliche Bibliothek und das Provinzstädtchen Amiens bis in die höchsten Kreise von Paris. Doch wird er jemals wirklich ankommen?
So klingt der Roman
Édouard Louis erzählt mit geradezu gewaltsamer Offenheit: von Ausgrenzungserfahrungen als schwuler Junge in der verwahrlosten Provinz, vom nimmersatten Aufstiegshunger, der nicht ohne Opfer zu stillen ist. Anders als noch in „Das Ende von Eddy“ mischen sich aber auch versöhnliche Töne in die Erzählung. Das gilt insbesondere für die an die Eltern gerichteten Sequenzen.
Hier klingt an, was Édouard Louis zu einem der aktuell profiliertesten, wenn auch keinesfalls unumstrittenen Intellektuellen Frankreichs hat werden lassen: seine Überzeugung, dass der eigene Ausbruch aus der Welt seiner Kindheit keinesfalls als Beispiel für eine soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft insgesamt missverstanden werden dürfe. Im modernen Frankreich erkennt Édouard Louis eine strenge Klassengesellschaft, die kaum einen Aufstieg gestatte.
Das ist unsere Meinung
„Anleitung ein anderer zu sein“ hat die meisten Shortlistler*innen tief beeindruckt. Die Gnadenlosigkeit, mit der Édouard Louis vor allem auch sich selbst bespiegelt, rührt an. Tempo und Stil der Erzählung haben das Gros unserer Runde gefangen genommen. „Das Ende von Eddy“ gelesen zu haben, ist keine Voraussetzung, steigert aber den Reiz des neuen Buchs von Edouard Louis nochmals. Denn der Vergleich beider Werke lässt die persönliche Entwicklung des Autors – und damit den Kern der „Anleitung ein anderer zu sein“ – besonders gut erkennen.
Bewertung
3,92 von 5 Punkte für „Anleitung ein anderer zu sein“ sind ein selten erreichter Spitzenwert bei der Hamburger Shortlist. Zur Wahrheit gehört aber auch: Noch einen autofiktionalen Roman von Édouard Louis wollte niemand von uns lesen. Wir warten gespannt darauf, ob der Autor ein anderes Sujet finden wird, und ob er damit die bisherigen Erfolge wiederholen könnte. (at)